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ZÜRICH / Tonhalle MAHLER 5. Symphonie, MOZART Oboenkonzert – PAAVO JÄRVI dirigiert das Tonhalle-Orchester Zürich; 2.2.

03.02.2024 | Konzert/Liederabende

ZÜRICH / Tonhalle MAHLER 5. Symphonie, MOZART Oboenkonzert – PAAVO JÄRVI dirigiert das Tonhalle-Orchester Zürich; 2.2.2024

Monumentaler Einstand für den neuen Zürcher Mahler-Zyklus

„Jede Mahler-Aufführung braucht ein gesundes Gleichgewicht zwischen dem größten Respekt vor dem Original und dem Vertrauen in das eigene intuitive Verständnis dieser Musik.“ Paavo Järvi

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Foto: Alberto Venzago

Der Start zu einem neuen Mahler-Zyklus bestand am Wochenende vom 1. bis 3.2. in Zürich bravourös die Feuertaufe. Von 2024 bis 2029 angelegt, ist der Beginn mit der „Fünften“ Mahler gemacht. Folgen werden die „Siebte“ und die „Erste“, jeweils live in der Tonhalle mitgeschnitten und bei Alpha veröffentlicht. Die Publikation der „Fünften“ ist für das Jahr 2025 in Aussicht gestellt.

Paavo Järvi, dessen Vertrag bis 2029 läuft, hat es drauf und das Tonhalle Orchester Zürich kann es ebenso: Die symphonische Welt Gustav Mahlers aus abgründiger Tiefe und himmelhoch jauchzender Lust, im Talmiglanz von Pomp und Nichtigkeit nach Befreiung suchend, in unverwechselbaren Eigenduftmarken rekreieren zu können. Nur so gewinnt dieses vielleicht letzte Opus summum der Musikgeschichte über den Notentext hinaus Bedeutung und Relevanz für unser Leben, unsere fragile Existenz. Das Lauschen von Mahlers Musik regt dazu an, menschlichen Größenwahn zu erkennen, persönliches Weh und Leid im seelischen Abtasten trostvoll sublimiert nacherleben und auflösen zu wollen.

Immer von der jeweiligen Warte und einem aktuellen Zeitverständnis heraus ist das von Mahler aus jenem so spezifischen Wiener Universum des fin-de-siècle erwachsene Erleben um Freuden und Liebe, um Groteskes und Widersprüchliches, um Schmerz, Abschied und Tod, allesamt symphonisch destilliert, musikalisch jeweils neu zu deuten und zu konkretisieren.

Paavo Järvi hat seinen ersten Mahler-Zyklus mit dem hr-Sinfonieorchester in Frankfurt in den Jahren 2008 bis 2013 (auf DVD und Blu-ray nachzuvollziehen) realisiert und für die Nachwelt bewahren lassen. Der aus Estland stammende Dirigent, der als Jugendlicher – seinem Musikervater Neeme Järvi sei Dank – in Sowjetzeiten auf Tonträgern zu Hause die „Vierte“ Mahler kennen und schätzen lernte, konnte nach seiner Emigration in die USA 1980 seine Ausbildung am Los Angeles Philharmonic Institute bei Leonard Bernstein vervollständigen.

Das 1868 gegründete Tonhalle Orchester Zürich wiederum hat unter der künstlerischen Leitung von David Zinman schon bei dessen „Amtsantritt“ im Jahr 1995 die Kadenz dieser Chefzeit mit einer Interpretation der „Achten“ vorgelegt. Der 78-jährige Zinman hat seinen offiziellen Abschied vom Orchester 2014 nach fast 20 Jahren Dienst mit Mahlers „Auferstehungssinfonie“ begangen. Zuvor hatte er alle Sinfonien Mahlers oftmals dirigiert und final eingespielt. Eine 15 SA-CD Box mit einer Gesamteinspielung ist beim Label RCA zum 100. Todestag des Komponisten 2011 erschienen.

„Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Nun also ist der Startschuss zu dem neuen Mahler-Zyklus mit der Fünften Mahler in cis-Moll in der fantastisch renovierten, akustisch legendären, wiewohl gefährlich klangmultiplizierenden „Grossen Tonhalle“ gefallen. Seit 1895 ist die Tonhalle Heimat des Tonhalle-Orchesters Zürich, sie wurde von keinem Geringeren als Johannes Brahms als Dirigenten eröffnet. Noblesse oblige.

War am 1. Februar nach der „Mahler-Symphonie“ noch ein unterhaltsamer Ausklang bei Tango-Musik programmiert (auch die Tonhalle muss sich neue Formate überlegen, um vor allem den finanzkräftigeren „Mittelbau“ der Gesellschaft anzusprechen, denn die Abonnenten werden nicht jünger), so stand am 2. Februar vor der Pause Wolfgang Amadeus Mozarts „Oboenkonzert“ in C-Dur, KV 314, mit Cristina Gómez Godoy als Solistin auf dem Programm.

Järvi begnügte sich bei Mozart mit der Rolle des umsichtig ordnenden Koordinators. Auf satt flauschigem Streicherklang in rhythmisch federnder Genauigkeit gebettet, geriet nach dem galanten ‚Allegro aperto‘ vor allem der zweite Satz zu einer von der Oboistin innig gesungenen melancholischen Träumerei. Der flotte dritte Satz, wesensverwandt mit Blondchens Arie „Welche Wonne, welche Lust“, markierte das temperamentvoll beschwingte Finale. Als Zugabe boten die spanische Oboistin Gómez Godoy, die ihre stupende Virtuosität bereits mit den drei Kadenzen unter Beweis gestellt hat, und das Orchester den ‚Reigen seliger Geister‘ aus Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“.

In einem Interview über den neuen Mahler-Zyklus mit der Leiterin Dramaturgie Ulrike Thiele hat Paavo Järvi auf den Wert von echter Tradition (aber keine Schlampereien bitte!) und Aufführungsgeschichte verwiesen, aber auch den Subtext zwischen den Noten und den Kontext mancher Vortragszeichen betont. Mahlers innerer Dialog brauche Zeit, Järvis Mahler-Interpretationen sind nach Eigeneinschätzung des Dirigenten über die Jahre „wahrscheinlich etwas langsamer geworden und in mancher Hinsicht etwas verzweifelter – und in euphorischen Momenten ein bisschen ausgelassener.“

Ein Kommentar zur Interpretation der „Fünften“ aus Frankfurt attestierte Paavo Järvi sie hätte „die Präzision von Boulez, die Kraft von Bernstein und die Raffinesse von Abbado.“ Kann man so sehen, ich finde aber, dass Paavo Järvi Paavo Järvi ist und eine sehr spezifische Lesart vorlegt, die meiner Meinung nach z.B. mit Bernsteins Dauerüberschwang gar nichts zu tun hat.

Järvi löst die Musik aus ihrer überwiegend hochemotionalen, aufführungsgeschichtlich manchmal im allzu besessen Rauschhaften befangenen Nabelschau. Es gilt ihm als prioritär, die Architektur der monströsen Symphonie offenzulegen, mit klaren Bewegungen und uhrschlagpräziser Taktgebung Kante und Faktur zu zeigen, die Partitur als ein großes Ganzes zu begreifen, dem sich die einzelnen Teile zu fügen haben. Das erinnert von der strukturellen Gangart her an die preisgekrönte, bei Alpha erschienene Aufnahme der „Achten“ Bruckner, für die am 12. April 2024 bei einem Gala-Konzert in Valencia der International Classical Music Award 2024 für sinfonische Musik verliehen wird.

Järvi scheut sich nicht, die Ausbrüche in voller Härte zu meißeln und wenn Mahler das so fordert, die Geigen „stets so vehement als möglich“ spielen zu lassen. Das „Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“ des zweiten Satzes wird dieser Bezeichnung dann auch so gerecht. Wobei die Akustik der Tonhalle das Ihrige zum Überwältigungseffekt und den bedrohlichen Klangballungen beiträgt.

Aber Järvi weiß auch um die subkutanen, in der Musik versteckten Geschichten und Andeutungen. Vor allem weil gerade Mahlers Fünfte, 1901 im Komponierhäuschen in Maiernigg am Wörthersee begonnen, 1904 im Kölner Gürzenich uraufgeführt, trotz des Anspruchs des Komponisten, absolute Musik zu sein, nach dem einleitenden düsteren Trauermarsch im Scherzo in der „Einfachheit seiner Themen“ mit Ländler und Walzer den Menschen „in vollem Tagesglanz auf dem höchsten Punkt seines Lebens“ (Zitat von Natalie Bauer- Lechner überliefert) zeigen will.

Wenn schon nicht im Detail auf ein konkretes Programm getrimmt, so durchläuft die Musik bei Järvi abseits der formalen Strenge wie in einem breit angelegten Roman ein Kaleidoskop an zugespitzten Lebenserfahrungen und Emotionen zwischen Inferno und schon brüchigem Paradies, Grotesk-Balladeskes nicht ausgespart. Auch Schmunzeln und Keckheit dürfen sein, wenn Järvi beim Motiv des Wunderhorn-Liedes „Lob des hohen Verstands“ im fünften Satz Oboe und Fagotte tierlautimitierend von der Leine lässt: Wenn der Esel Richter im Wettgesang von Nachtigall und Kuckuck spielen soll, darf man sich ruhig als naseweis pseudogscheit angesprochen fühlen.

Vielleicht hält Gustav Mahler der Menschheit in der Fünften einen Spiegel vor. Der erste und zweite Satz klingen so, als ob – auf heutige Verhältnisse umgemünzt – es sich um symphonisch transponierte, in manisch-depressivem Exhibitionismus aufgebauschte Facebook- oder Instagram-Accounts handelt. Das naturburschenhafte Scherzo lässt Järvi hingegen besonders transparent und betont kammermusikalisch Revue passieren.

Besonders überzeugt hat mich das von jeglicher Sentimentalität bare ‚Adagietto‘. Bei Järvi handelt es sich um keinen tränenreichen Kniefall vor dem berühmten Visconti-Film „Tod in Venedig“, sondern um ein in sich dramatisch durchaus zugespitztes Intermezzo mit zitiertem Blick-Motiv aus „Tristan und Isolde“. Der Welt abhandengekommen sind wir ja, zumindest in dieser „Fünften“, noch lange nicht.

Dieses einzigartige symphonische Juwel mündet direkt in die schale Geschäftigkeit des „Rondo-Finales“, wo die Dinge ihren Trieben folgen und „jedes Thema dem folgt, was in ihm angelegt ist, ohne viel nachzudenken, wie es scheint“ (Michael Gielen). Dieses populär „Anschauliche“, ja übersteigert Banale in Mahlers apotheotischem Ausklang darf ruhig als fintenreich aufgefasst werden. Bejubeln wir am Ende gar unsere eigene Leere? In Anbetracht der Probleme des Planeten und der ins Archaisch-Kriegerische abdriftenden Menschheit mit dem barbarisch postulierten Recht des Stärkeren bleibt die Fünfte Mahler heute wie damals ein weiser Mahnschrei. Järvis kompromisslos expressive, formal glasklar disponierte Lesart spricht Bände davon. Das fabelhafte Tonhalle-Orchester (insbesondere imponiert haben Streicher und Holz) und Dirigent sind bestens aufeinander eingeschworene, künstlerisch kongeniale Partner.

Der aufrüttelnde Anfang ist gemacht, auf die Fortsetzung dürfen wir gespannt sein.

Anmerkung: Was die Temporegie anlangt, so liegt Järvi mit ca. 71 Minuten Spielzeit zwischen den Polen Bernstein, Wr. Philharmoniker, Tennstedt (75) und V. Neumann Leipziger Gewandhausorchester (65). Er befindet sich in diesem „Mittelfeld“ in illustrer Gesellschaft von Gielen, Sinopoli (69), Abbado, Luzern (70) und Maazel (72).

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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