Zürich: OREST (Manfred Trojahn) – besuchte Aufführung 2.03. (Premiere: 26.2.)
Was geschieht mit Orest?
Georg Nigl (Orest), Evelyn Angela Gugolz (Klytämnestra). Copyright: Judith Schlosser/ Oper Zürich
Die vor sieben Jahren in Amsterdam uraufgeführte Oper von Manfred Trojahn beginnt dort, wo Strauss‘ Elektra aufhört. Mit dem Todesschrei der Klytemnästra wird man gleich mitten in das Geschehen um die Atriden katapultiert. Ein geschlossener abstrakter Raum mit kinetisch verschwimmenden Dreiecken (Bühnenbild: Kathrin Connan) wird der unentrinnbare geistige Raum für Orest sein, der auf einem eisernen Spitalbett in weisser Kleidung von seinen inneren Stimmen malträtiert wird. Diese (6 Soprane und Violinen) werden im ganzen Opernhaus aus verschiedenen Lautsprechern eingespielt, sodass sich der Zuhörer „mitten im Kopf von Orest“ befindet. So bewegen sich auch alle Figuren, die auftreten, quasi traummässig und nicht alltäglich.
So tritt auch Apollo auf, der Orest einst den Befehl gab, Klytemnästra und Ägisth zu töten, aber sich jeglicher Verantwortung entzieht und Orest mit seiner Schuld allein lässt. Apollo hat aber auch das Janusgesicht des Dionysos, der Orest Ruhm und Sinnlichkeit verspricht. Dann ist da noch seine Schwester Elektra, die ihre unstillbaren Rachegelüste gegenüber der schönen Helena hegt, da sie ja für die ganze Misere des Trojanischen Krieges verantwortlich ist. Elektra ist es, die Orest manipuliert, Helena zu töten, aber er kann nicht auch noch ihre Tochter Hermione töten, die rein und schuldlos ist. Mit ihr wird Orest seinen Weg finden, sich von den Göttern loszusagen (nach Nietzsche, die Götter sind tot) und aus dem klaustrophobischen Raum entfliehen können. Die sechs Szenen – ähnlich der Oper Elektra – folgen sich in rascher Folge und die Dramaturgie entlässt auch das Publikum nicht einen Moment aus dem Klammer-Griff. Verschiedene Anspielungen auf das Strauss’sche Werk sind zu erkennen, aber nicht plump angeführt. Der Orchesterapparat ist von grossem Kaliber, farbig in den Timbres und von eindringlicher Wirkung. Die Vokalpartien sind für die Sänger höchst anspruchsvoll geschrieben, lassen aber auch die Freiheit zu Gesang und Darstellung.
Diese Umsetzung hat Hans Neuenfels mit meisterlicher Hand bewirkt. Die Personenführung lässt den Meister der Regie erkennen und die Körpersprache der Charaktere ist absolut verständlich und doch stilisiert.
Claudia Boyle (Helena), Ruxandra Donose (Elektra). Copyright: Judith Schlosser/ Oper Zürich
Allen voran ist der fabelhafte Georg Nigl zu nennen, der die Hauptpartie in jeder Faser wie ein Wozzeck singt, darstellt und durchlebt. Ruxandra Donose ist seine Schwester Elektra, die eine intensive Darstellerin ist und mit herrlichem Mezzo die dramatische Partie singt: Grossartig! Als Janus-gesichtiger Gott Apollo/Dionysos ist einmal mehr der hoch begabte Airam Hernandez zu erleben, der sowohl darstellerisch als auch sängerisch mit tenoralem Glanz den eitlen Gott verkörpert. Als Helena ist Claudia Boyle mit extremer Koloraturtechnik unterwegs und vermag die an Mrs. Trump erinnernde First Lady auch darstellerisch hervorragend zu bewältigen. Ihr Auftritt im glitzernden Sternenmantel (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer) ist atemberaubend. Ihre Tochter Hermione wird von Claire de Sévigné gesungen, die eine wunderbar leichte Höhe aufzuweisen hat. Ihre grosse Szene mit der Zikade, wo sie aus dem Teufelskreis der verbrecherischen Atriden ausbrechen will, ist ein schöner Leistungsausweis für die junge Sängerin, die als Blonde schon begeistert hatte. Als Menelaos ist Raymond Very der politisch korrumpierte Thron-Prätendent, der Orest aus eigennützigen Gründen nicht helfen will. Klytemnästra (Evelyn Angela Gugolz) und Aegisth (Benjamin Mathis) sind die dramaturgisch wichtig eingesetzten stummen Figuren wie der Page (Frank Metzner), der einen erotischen Auftritt zu absolvieren hat. Eindrücklich die Statisten als Krieger, die dem Trojanischen Pferd entsteigen und an denen Helena sogleich ihre verblasste Verführungskunst erprobt. Die Herren des Chors (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) haben ihren prägnanten Auftritt als manipulierbare Masse.
Die Philharmonia spielt virtuos und klangreich unter Erik Nielsen, Musikchef der Basler Oper, der die Fäden der komplexen Partitur souverän in Händen hält.
Ein faszinierender Abend zeitgemässen Musiktheaters – schade, dass nur die wirklich Interessierten den Weg ins Opernhaus Zürich finden.
John H. Mueller