Gaëtano Donizetti: Lucia di Lammermoor • Opernhaus Zürich • Wiederaufnahme: 20.09.2024
(Premiere am 20.06.2021)
Ein musikalisch überzeugender Abend
Das Opernhaus Zürich beginnt die neue Saison mit der Wiederaufnahme von Donizettis «Lucia di Lammermoor». Szenisch bietet der Abend kaum mehr als abgestandenes, schwer verdauliches Regietheater: Kostüme aus der Kleidersammlung und kopulierende Choristen, die nur langweilen. Musikalisch gerät er aber um so überzeugender.
Copyright: Toni Suter/Oper Zürich
Ausgangspunkt der Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist die Vermutung eines Traumas in Lucias Kindheit, auf das Lucia und Edgardo immer wieder zurückkämen, also eine Psychologisierung, die in der endlich wieder einmal inszenierten Ouvertüre schon lang und breit dargelegt wird. Die italienische romantische Oper Bellinis und Donizettis hatte sehr wohl Interesse an psychischen Ausnahmezuständen und deren Erscheinung, nicht aber an der tieferen Begründung, und so deutet Gürbaca meisterhaft, wo es, das verrät die gängige und ohne Aufwand verfügbare Literatur, nichts zu deuten gibt. Ob Lucia, wenn sie auf Raimondos Bitte in die Heirat einzuwilligen, dies als Opfer, und ihre Antwort, die Familie retten zu wollen, als Auflehnung sieht, ist doch sehr zu hinterfragen. Genauso zu hinterfragen ist die These, Lucia sei keine Privatheit zugestanden worden, denn dazu müsste es im 19. Jahrhundert bzw. Ende des 16. Jahrhunderts einerseits eine mit der Gegenwart vergleichbare Privatheit gegeben haben und andererseits war es in einer Zeit, in der, wie es die Literatur verrät, Anstandsdamen für adlige Mädchen selbstverständlich waren, eine Verbindung längere Zeit geheim zu halten kaum möglich. Lucias Hochzeitsfeier interpretiert Gürbaca als Orgie, an der heftigst kopuliert wird. Die ganze Inszenierung ist von einem energiegeladenen Bewegungsdrang (Einsatz der Drehbühne mit sechs identischen Szenen) geprägt, der seinen genialen Höhepunkt erreicht, wenn Edgardo im 7. Bild an den Gräbern seiner Ahnen ein Häuflein Erde aus dem leeren Bettgestell nach aussen schaufelt. Die Elemente des Bühnenbilds von Klaus Grünberg sind, so wie sie an die Fluggastbrücken des stillgelegten Flughafens Berlin‐Tegel erinnern, vom Charme der Nachhaltigkeit geprägt. Nachhaltigkeit scheint auch bei den Kostümen von Silke Willrett (Kostümmitarbeit: Kerstin Griesshaber) das Gebot der Stunde gewesen zu sein: Einzelstücke aus der Kleidersammlung in ihrer Zusammenstellung inspiriert von den Bildern schottischer Fussballfans. Auch die akribisch-sorgfältige Arbeit mit den Protagonisten als Kindern vermag den Abend nicht zu retten.
Dirigent Leonardo Sini hat bei den Proben ganze Arbeit geleistet. Er hat das Lautstärkengefüge bestens im Griff und wählt für die Aufführung zügige, aber nicht zu schnelle Tempi. Er animiert die Musiker der Philharmonia Zürich zu individuellen Höchstleistungen, die zu einem wunderbar harmonischem Ganzen verschmelzen. «Lucia di Lammermoor» ist seit Jahren ein fester Wert in den Zürcher Spielplänen und doch ist hier eine wie selten farbige, unerhört mitreissende Aufführung zu erleben. Der Chor der Oper Zürich (Choreinstudierung: Janko Kastelic) überzeugt mit Wohlklang und überraschend intensiver Spiellaune.
Das Ensemble der Solisten begeistert mit einer aussergewöhnlichen Harmonie der Stimmen. Boris Pinkhasovich gibt den Enrico Ashton kraftvoller Virilität und einer Stimme, die das Haus bis in den letzten Winkel füllt. Seine noble Erscheinung verleiht ihm eine intensive Bühnenpräsenz. Nina Minasyan wird vom Publikum in der Rolle seine Schwester Lucia heftig gefeiert. Die Stimme ist absolut höhensicher, die Bühnenerscheinung ist absolut rollengerecht. An diesem Abend ist das Fundament der Stimme eher schmal und die Kontrolle über die Stimme nicht ganz so, wie sie sein sollte. Die Überraschung des Abends ist der polnische Tenor Piotr Buszewski in der Rolle des Edgardo di Ravenswood. Er nennt einen strahlenden, absolut höhensicheren Tenor sein eigen. Wenn er etwas an der Einteilung seiner Kraftreserven und der Diktion (Unterscheidung von «ä» und «e») arbeitet, wird er viel erreichen können. Maxim Kuzmin-Karavaev ist eine restlos überzeugende Besetzung für Lucias Erzieher Raimondo Bidebent und brilliert mit tadellosem Belcanto. Raúl Gutiérrez ist eine kraftvolle Luxus-Besetzung des Lord Arturo Bucklaw, Daniel Kluge ein stimmlich überzeugender Hauptmann Normanno. Ena Pongrac ergänzt das Ensemble als Lucias Kammerdame Alisa.
Ein musikalisch überzeugender Abend.
Weitere Aufführungen:
Di. 24. Sept. 2024, 19.00; So. 29. Sept. 2024, 13.00; So. 06. Okt. 2024, 20.00; Mi. 16. Okt. 2024, 19.00;
Sa. 26. Okt. 2024, 19.00.
20.09.2024, Jan Krobot/Zürich