Gaëtano Donizetti: Lucia di Lammermoor, Opernhaus Zürich, Vorstellung: 24.06.2021
(2. Vorstellung • Premiere am 20.06.2021)
«Regietheater» allererster Güteklasse
Ganz am Anfang seiner Karriere im Bereich der Kunst lernte der junge Kritiker, jede Äusserung über eine künstlerische Darbietung habe positiv zu beginnen. Daran will er sich auch in diesem Fall halten. Mit der Inszenierung von Donizettis Meisterwerk «Lucia di Lammermoor» durch Tatjana Gürbaca bietet das Opernhaus Zürich seinem Publikum «Regietheater» allererster Güteklasse.
6. Bild; Foto © Herwig Prammer
Ausgangspunkt der Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist die Vermutung eines Traumas in Lucias Kindheit, auf das Lucia und Edgardo immer wieder zurückkämen, also eine Psychologisierung, die in der endlich wieder einmal inszenierten Ouvertüre schon lang und breit dargelegt wird. Die italienische romantische Oper Bellinis und Donizettis hatte sehr wohl Interesse an psychischen Ausnahmezuständen und deren Erscheinung, nicht aber an der tieferen Begründung, und so deutet Gürbaca meisterhaft, wo es, das verrät die gängige und ohne Aufwand verfügbare Literatur, nichts zu deuten gibt. Ob Lucia, wenn sie auf Raimondos Bitte in die Heirat einzuwilligen, dies als Opfer, und ihre Antwort, die Familie retten zu wollen, als Auflehnung sieht, ist doch sehr zu hinterfragen. Genau so zu hinterfragen ist die These, Lucia sei keine Privatheit zugestanden worden, denn dazu müsste es im 19. Jahrhundert bzw. Ende des 16. Jahrhunderts einerseits eine mit der Gegenwart vergleichbare Privatheit gegeben haben und andererseits war es in einer Zeit, in der, wie es die Literatur verrät, Anstandsdamen für adlige Mädchen selbstverständlich waren, eine Verbindung längere Zeit geheim zu halten. Lucias Hochzeitsfeier interpretiert Gürbaca als Orgie, an der heftigst kopuliert wird. Die Aktualität ihrer Sicht stellt sie dadurch unter Beweis, dass dies nur gleichgeschlechtlich geschieht. Die ganze Inszenierung ist von einem energiegeladenen Bewegungsdrang (Einsatz der Drehbühne mit sechs identischen Szenen) geprägt, der seinen genialen Höhepunkt erreicht, wenn Edgardo im 7. Bild an den Gräbern seiner Ahnen ein Häuflein Erde aus dem leeren Bettgestell nach aussen schaufelt. Die Elemente des Bühnenbilds von Klaus Grünberg sind, so wie sie an die Fluggastbrücken des stillgelegten Flughafens Berlin-Tegel erinnern, vom Charme der Nachhaltigkeit geprägt. Nachhaltigkeit scheint auch bei den Kostümen von Silke Willrett (Kostümmitarbeit: Kerstin Griesshaber) das Gebot der Stunde gewesen zu sein: Einzelstücke aus der Kleidersammlung in ihrer Zusammenstellung inspiriert von den Bildern schottischer Fussballfans der laufenden Europa-Meisterschaft.
Coronabedingt muss die Philharmonia Zürich weiterhin im Probenraum am Kreuzplatz spielen und per Glasfaserkabel ins Haus übertragen werden. Der Klang, der ankommt und von der Tontechnik ohne einzelne Instrumentengruppen zu stärken oder schwächen ans Haus angepasst werden sollte, ist reichlich unausgewogen, scheppernd und vor allem zu laut. Über den Klang der Philharmonia Zürich, die die Partitur bestens kennt, kann so nur eingeschränkt geurteilt werden. Das Grundproblem des Abend sind die von Speranza Scappucci gewählten Tempi, die, viel zu langsam oder viel zu schnell, es den Sängern und dem von Janko Kastelic vorbereiteten Chor der Oper Zürich verunmöglichen mitzuhalten. Da auch der Chor am Kreuzplatz singt, wird er wie gewohnt vom ausserordentlich spielfreudigen Statistenverein am Opernhaus Zürich auf der Bühne vertreten.
Massimo Cavalletti gibt einen hervorragenden Enrico Ashton und brilliert mit seinem virilen Bariton und grossem Stilbewusstsein. Irina Lungu, die Lucia, seine Schwester singt, erfüllt die technischen Anforderungen der Rolle weitgehend. Fehlendes Legato und vor allem völlig fehlende Emotionen trüben den Eindruck. Der enden wollende Applaus ohne «Brava»-Rufe nach ihren grossen Arien spricht für sich. Star des Abends, auch wenn er durch die Tonübertragung zu übermässigem Forcieren gezwungen ist, ist Piotr Beczała als Edgardo di Ravenswood. Stilistisch unpassend ist allerdings die Träne in der Stimme, die deutlich schwerer geworden ist und die Entscheidung, die Partie in Zukunft nicht mehr zu singen, unterstützt. Mit Andrew Owens als Lord Arturo Bucklaw und Iain Milne als Normanno sind diese beiden Partien luxuriös besetzt. Oleg Tsibulko als Raimondo Bidebent bleibt stimmlich wie darstellerisch erschreckend blass. Roswitha Christina Müller als Alisa, Lucias Kammerdame, Sava Baumgartner (Lucia als Kind), Jack Csajka (Edgardo als Kind), Ludwig Hoefs (Enrico als Kind) und Samuel Maurer (Normanno als Kind) ergänzen das Ensemble.
«Regietheater» allererster Güteklasse!
Weitere Aufführungen: SA 26.06.2021, 19.00 und MI 30.06.2021, 19.00.
Video-on-Demand auf Arte Concert vom 26.06.2021 bis 27.09.2021
25.06.2021, Jan Krobot/Zürich