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ZÜRICH/ Opernhaus: LUCIA DI LAMMERMOOR (4. Vorstellung). So wird aus Belcanto «Belgrido»

01.07.2021 | Oper international

Gaëtano Donizetti: Lucia di Lammermoor, Opernhaus Zürich, Vorstellung: 30.06.2021

 

(4. Vorstellung • Premiere am 20.06.2021)

 So wird aus Belcanto «Belgrido»

Buhrufe am Opernhaus Zürich für Starregisseurin

 

Als letzte Aufführung der Saison zeigte das Opernhaus Zürich nochmals die neue «Lucia di Lammermoor». Beim zweiten Besuch der Produktion verdeutlichen sich die angesprochenen Probleme: die Inszenierung, die Wahl der Tempi durch die Dirigentin und die Übertragung des Orchesterklangs vom Probenraum am Kreuzplatz ins Opernhaus.

Das Kernproblem der Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist, dass sie der Oper eine psychologische Deutung aufzuzwingen, eine psychologische Tiefe zu geben versucht, die sie nicht hat und auch von Librettist und Komponist nicht gewollt war. Die Romantik hat sich für die «dunklen» Seiten des Menschen wie den Wahnsinn interessiert, aber war dann mit «einfachen» Begründungen zufrieden, denn wie es 1847 der Sekretär des Teatro San Carlo in Neapel formulierte: «Was das Publikum wünscht, sind Katastrophen, Personen, die tot sind, sterben und weinen, und nicht Personen, die glücklich sind». Psychoanalyse gehört da sicher nicht dazu. Ein Charakteristikum von Donizettis «Lucia di Lammermoor» ist, wie es Gürbaca selbst im Programmheft formuliert, dass «die Koloraturen eben nicht einfach Dekoration und nur schöne Musik sind, sondern Inhalt und Substanz haben». Im Belcanto braucht die Musik, damit sie wirken kann, damit sich Inhalt und Substanz mitteilen können, Zeit. Und genau diese Zeit nimmt Gürbaca mit ihrer chronischen Angst vor der szenischen Ruhe der Musik. Bereits in der Ouvertüre, die den Zuhörer stimmig in die Oper einführt, postuliert sie mit Lucia, Edgardo, Enrico und Normanno als Kindern das postulierte Trauma. Im Wissen darum, dass der Librettist die Tierbezeichnung unter Umständen nach der Anzahl Silben ausgewählt hat, wirkt die Suada des Programmhefts über die Wahrscheinlichkeit von wilden Stieren und den Sanftmut schottischer Hochlandrinder lächerlich. Bereits die zweite Nummer der Oper (Nr. 2 Szene und Kavatine, Enrico), in der Enrico seinen ersten Auftritt hat, wird durch den Einsatz der Drehbühne und den Hyperaktivismus der Statisten (der Chor singt ja im Probenraum am Kreuzplatz) zerstört. Während Enrico immer wieder von «Kuchenstück» zu «Kuchenstück», die Drehbühne ist in sechs gleiche, identisch eingerichtete Räume aufgeteilt, wechseln muss, verprügelt die Statisterie einen Anhänger Edgardos. Hinzu kommen Unstimmigkeiten wie die, dass Normanno Enrico Papiere vor die Füsse wirft, statt sie ihm in die Hand zu geben, obwohl dazu keine Motivation besteht. Betrachtet man, wie die gezeigte Gesellschaft eine Hochzeit feiert, mit einer gewalttätigen, vulgär herausgestellten Sex-Orgie, so scheinen fehlende Ästhetik und Kinderstube Programm zu sein. Die folgende Nummer (Nr. 3 Szene und Kavatine Lucia), Lucias erster Auftritt mit der wunderbaren Harfenbegleitung, beginnt in der eingefrorenen Szenerie der vorherigen Nummer. Um eine schwarz gekleidete Harfenspielerin, vermutlich Lucias verstorbene Mutter, herum, gerieren sich Lucia und Alisa wie Schulmädchen. Die in den beiden Nummern aufgetretenen Probleme setzen sich den ganzen Abend hindurch fort, sei es im Sextett oder dem Beginn der Wahnsinnszene, beide durch den Hyperaktivismus auf der Bühne in ihrer Wirkung beschnitten, oder zu Beginn des 5. Bildes im Turm von Wolferag, wo Enrico einen Pferdesattel mit sich schleppen muss, weil das Libretto vom «Trappeln eines Pferdes» spricht («Ich höre in der Nähe

das Trappeln eines Pferdes!») oder im letzten Bild, wo Edgardo unmotiviert Erde hin und her schaufelt.

Die Wahl der Tempi durch die Dirigentin Speranza Scappucci ist im Ganzen wenig stimmig und konsequent: In der ersten gehörten Vorstellung wird das Sextett so gedehnt, dass die Sänger ins Schleudern geraten, in der zweiten gehörten Vorstellung passiert dann das Gegenteil. Im Übrigen ist die Beurteilung der Philharmonia Zürich und dem von Janko Kastelic vorbereiteten Chor der Oper Zürich, die die Partitur angesichts der Zürcher Aufführungstradition der «Lucia» bestens kennen, deutlich erschwert, da zwischen dem Probenraum am Kreuzplatz und dem Ohr des Zuhörers ja noch die Tonübertragung steht.

Grundsätzlich ist der Erfindungsreichtum der Verantwortlichen und das entwickelte Corona-Spielmodell des Opernhaus Zürich zu loben. So konnte es, solange es die weiteren Vorschriften zuliessen, weiterhin grosse Oper gezeigt werden. Wie in den Medien ausführlich nachzulesen, sind Chor und Orchester, um die Abstandserfordernisse zu erfüllen und in voller Besetzung agieren zu können, in den Probensaal am Kreuzplatz „ausquartiert“: «40 Mikrofone für das Orchester, 20 Mikrofone für den Chor, 1 Kamera für den Dirigenten und 1’000 Meter neu verlegtes 10 Gigabit Glasfaserkabel übertragen den Klang verzögerungsfrei ins Opernhaus. Neunzig im Saal verteilte Lautsprecher sorgen für einen überwältigenden Raumklang.» Hat die Übertragung im Herbst («Boris Godunow» oder «Maria Stuarda») noch funktioniert, hat sich nun der Umgang mit den ankommenden Signalen zum Problem entwickelt. Der Versuch das Orchester so natürlich wie möglich klingen zu lassen, den Klang so zu mischen, dass der Zuhörer den Eindruck hat die Philharmonia sässe im Graben und der Chor sänge auf der Bühne, gelingt nicht mehr. Die »Möglichkeit das Orchester aus dem Graben hochzuholen», wie es die Tontechniker im Podcast selbst formulieren, führt zu einem kreativen Umgang mit dem Klang. Das Orchester klingt im Endeffekt viel zu laut, knallig, je nach Sitzplatz des Zuhörers dröhnend, was die Sänger zu unnötigem Brüllen veranlasst. So wird aus Belcanto «Belgrido».

Massimo Cavalletti als Enrico Ashton ist mit seinem prächtigen Bariton, grossem Stilbewusstsein und intensiver Bühnenpräsenz das Zentrum der Aufführung. Piotr Beczała als Edgardo di Ravenswood befindet sich stimmlich auf dem Höhepunkt seiner Möglichkeiten. Die Stimme ist aber bereits recht schwer und die Träne in der Stimme ist stilistisch nicht wirklich passend.  Irina Lungu als Lucia lässt gegen Ende der Wahnsinnsszene stimmliche Ermüdungserscheinungen hören. Was ihrer Interpretation leider fehlt, sind die bereits erwähnten «Inhalt und Substanz». Oleg Tsibulko gibt mit schlankem Bass den Raimondo Bidebent. Der Stimme fehlt die für diese Rolle nötige Färbung und so bleibt er darstellerisch blass. Mit Andrew Owens als Lord Arturo Bucklaw und Iain Milne als Normanno sind diese beiden Partien mit zwei stilistisch höchst versierten Tenören luxuriös besetzt. Roswitha Christina Müller als Alisa, Lucias Zofe, Sava Baumgartner (Lucia als Kind), Jack Csajka (Edgardo als Kind), Ludwig Hoefs (Enrico als Kind) und Samuel Maurer (Normanno als Kind) ergänzen das Ensemble.

Keine weiteren Aufführungen in dieser Saison.

Video-on-Demand auf Arte Concert vom bis 27.09.2021: https://www.arte.tv/de/videos/104297-000-A/lucia-di-lammermoor-von-gaetano-donizetti/

Aufführungen in der Saison 2021/2022:

So. 22 Mai 2021, 20.00; Do. 26 Mai 2021, 19.30; So. 29 Mai 2021, 14.00; Sa. 04 Jun 2021, 19.00;

So. 12 Jun 2021, 20.00.

01.07.2021, Jan Krobot/Zürich

 

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