Vincenzo Bellini: I Capuleti e i Montecchi • Opernhaus Zürich • Vorstellung: 10.10.2021
(5. Vorstellung • Wiederaufnahme am 19.09.2021)
Crescendo des Missbrauchs
Foto © Monika Rittershaus
Christof Loys Zürcher Inszenierung von Bellinis dritter Oper geht von der Hypothese aus, der Librettist Felice Romani habe sich bei seiner Arbeit auf die verfeindete Adelsfamilien fokussiert. Darauf wiesen der Titel des Stücks, der nicht die Namen der beiden Hauptfiguren, sondern die ihrer Familie nenne, hin wie auch die Tatsache, dass Romeo und Julia nur zwei Szenen, die erste Begegnung und den Abschied, alleine bestritten. Beide Begründungen sind aber nur bedingt stichhaltig, wobei im Auge zu behalten ist, dass das Libretto noch schneller als zu jener Zeit ohnehin schon üblich, entstehen musste. Vincenzo Bellini war vom Teatro La Fenice im Herbst 1829 engagiert worden, um seine ersten grossen Erfolg, die zwei Jahre alte Oper «Il Pirata», einzustudieren. Als sich abzeichnete, dass Giovanni Pacini vertragsbrüchig werden würde, unterzeichnete das Theater Anfang Januar 1830 mit Bellini den Vertrag über die dem Publikum versprochene, neu komponierte Partitur zu Ende der Winterspielzeit 1830. Da das Ende der Winterspielzeit am Samstag drei Wochen vor Ostern (21.03.1830) durch die Fastenzeit vorgegeben war und das neue Werk noch mehrfach gezeigt werden sollte (und ja auch einstudiert werden musste), blieb Romani und Bellini nur wenig Zeit für die neue Partitur. So arbeitete Romani sein fünf Jahre zuvor für Nicola Vaccaj entstandenes Libretto «Giulietta e Romeo» für Bellini um. Da diese Oper, wie auch «Giulietta e Romeo» von Nicola Antonio Zingarelli, noch gespielt wurde und bei Publikum bekannt war, galt es umso mehr die Bearbeitung zu kaschieren. Selbst wenn, was anzunehmen ist, die Entstehungsgeschichte bekannt war, galt es den schönen Schein zu wahren. Und da Romani und Bellini Einspringer und die Sänger und Instrumentalisten für die geplante neue Oper Pacinis längst engagiert waren, musste ihr Werk der vorhandenen «Infrastruktur» entsprechen. Ein dominantes Auftreten des Chores muss also, wie auch die Besetzung des Romeo mit einem Mezzosopran, noch längst nicht von den beiden gewollt sein. Loy lässt das Stück im Mafia-Milieu der 1950er-Jahre (Ausstattung: Christian Schmidt) spielen und betont, beinahe obsessiv, die Vater-Tochter-Beziehung von Capellio und Giulietta und die vom Libretto vorgegebene Reduktion des Dramas auf einen häuslich-familiären Konflikt, in den die Gewalt von aussen hereingetragen wird. In der Vater-Tochter-Beziehung sieht Loy einen Missbrauch Giuliettas im Jugendalter, eine Einstellung der Drehbühne zeigt sie (vor dem ersten Missbrauch) wie bei der Erstkommunion im weissen Kleid mit Kerze. Dann geht es mit dem Vater in einen schäbigen Raum mit Waschbecken und fehlendem Spiegel. Dieses Bild taucht während der Sinfonia auf der sich immer schneller drehenden Bühne und während des Stücks immer wieder auf. Entsprechend ist die Figur der Giulietta mindestens gedoppelt. Im weiteren Verkauf des Stückes gibt es immer wieder Unstimmigkeiten. Wenn Capellio sich zu Tebaldo äussert «Ja, umarme mich» und Tebaldo ihm stattdessen die Hand küsst, sollten die Übertitel entsprechend angepasst werden. Und wenn Romeo Giulietta zur Flucht auffordert und Giulietta beginnt Kleider zum Kofferpacken zurecht zu legen, müsste, um die gewollte Wirkung zu erzielen, auch ein Koffer zu sehen sein. Warum sowohl der Chor wie Capellio Smoking tragen, Tebaldo aber einen normalen kolonialfarbenen Anzug, ist nicht schlüssig. Die Lichtgestaltung verantwortet Franck Evin, die Choreografie von Chor und Statisten von Thomas Wilhelm.
Die musikalische Leitung der Vorstellung liegt bei Fabio Biondi und die Philharmonia Zürich und der Chor der Oper Zürich (Choreinstudierung: Janko Kastelic) setzen Biondis Sicht der Partitur, die auf seiner 2015 beim Label Glossa erschienen Aufnahme von «I Capuleti e i Montecchi» nachzuhören ist, konzentriert im Sinne des Dirigenten um. Von dem von Biondi vorgeschlagenen kammermusikalischen Musizieren, dem engen Dialog von Orchester und Solisten ist nur an wenigen Stellen etwas zu bemerken. Häufig geraten die gross besetzte Philharmonia (zum Beispiel drei Posaunen) und der Chor so laut, dass die Mehrheit der Solisten gnadenlos zugedeckt wird. Biondis Dirigat ist über weite Strecken wesentlich näher an einer knallig dirigierten «patriotischen» Oper Verdis als an Belcanto.
Maxim Kuzmin‐Karavaevs Capellio bleibt auch mit gesteigerter Bühnenpräsenz unauffällig. Grossartigen Belcanto, stilistisch perfekt und mit viel Emotion, bieten Rosa Feola als Giulietta und Jana Kurucova als Romeo. So geht Belcanto! Hier bleiben keine Wünsche offen. Omer Kobiljaks Leistung als Tebaldo wäre tadellos, würde er beispielsweise als Verdis Ernani auf der Bühne stehen. Um als Tebaldo bestehen zu können fehlen aber die Leichtigkeit der Stimme wie die Umsetzung der stilistischen Charakteristika des Belcanto. Brent Michael Smith und Dominik Więcek ergänzen das Ensemble als Lorenzo, Arzt und Vertrauter Capellios und Der Begleiter.
Keine weiteren Aufführungen in dieser Saison.
10.10.2021, Jan Krobot/Zürich