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ZÜRICH/Opernhaus: HÄNSEL UND GRETEL. Premiere

"Sich hinüberträumen in eine bessere Welt“

19.11.2018 | Oper


Anna Stephany (Hänsel), Marina Prudenskaya (Knusperhexe), Olga Kulchynska (Gretel). Foto: Tanja Dorendorff

Opernhaus Zürich: HÄNSEL UND GRETEL – Premiere am 18.11.2018

„Sich hinüberträumen in eine bessere Welt“

Der Komponist Engelbert Humperdinck hat die in Weimar 1893 unter Richard Strausss uraufgeführte Märchenoper, eines der grausamsten Grimm-Märchen, in eine wunderschöne, ergreifende Musik getaucht. Diese seltsame Geschichte vom Geschwisterpaar, das von der überforderten Mutter in den Wald zum Beerensuchen gejagt wird und dort in eine Traumwelt versinkt, spricht mit seinem unfassbaren Mythos unsere Seelen an. Die Kinder im Publikum erleben die Geschichte wohl mit einer anderen Wahrnehmung als die Erwachsenen, die sich vielleicht in das „Kinderland“ zurücksehnen.

Regisseur Robert Carsen hat die Geschichte verdammt ernst genommen und sie im Heut und Jetzt spielen lassen. Armut und Hungersnot sind auch heute kein Fremdwort, sondern für viele Menschen bittere Realität. Hänsel und Gretel sind Kinder von heute, leben mit ihren Eltern in erbärmlicher Armut, in einer kaputten Welt von Abfall und Chaos. In einem heruntergekommenen Wohnwagen leben sie, überall liegt Müll herum, an den Mauern, die die ganze Szene klaustrophobisch umschliessen, sind Graffiti zu sehen. Die beiden Kinder sind auch heutig angezogen, tragen Kapuzenjacken und Turnschuhe. Die Mutter kommt nach Hause – offenbar war sie in ihrer Not auf dem Strich – beschimpft die Kinder wegen Untätigkeit und verjagt sie. Peter Besenbinder, der Vater, kommt mit seinem Sack voller Esswaren zurück, die er aus dem Erlös seiner Bürstenwaren, die er auf dem Jahrmarkt feilgeboten hatte, erstehen konnte. Doch Besenbinder ist Alkoholiker und versucht offenbar so, sein Elend zu ersäufen. – Die Kinder finden im Wald bei einbrechender Dunkelheit den Weg nicht mehr – eine besonders berührende Stelle – und haben Angst vor den unheimlichen Figuren. Dies sind die acht Tänzer, die mit modernem Rap-Dance den sog. Hexenwalzer tanzen, aber irgendwie den Kindern gut gesonnen sind. Nachdem das Sandmännchen ihnen offenbar einschläfernde Drogen eingeflösst hat, beten die Kinder den Abendsegen. Die wilden Gesellen kommen dazu und beschützen den Schlaf der Kinder. Dann tut sich eine unwirkliche Welt auf, der Traum von Weihnachten, Wärme und Fröhlichkeit.         

Am Morgen – wir sind jetzt im 3. Akt – wachen die Kinder nach dem Weckruf des Taumännchens im Wald auf, wo alle Tannen weihnächtlich geschmückt sind. Als dann ein zuerst vertrauenserweckender Weihnachtsmann auftritt, ist das nur die Maske der Hexe, die hier auch von der Sängerin der Mutter dargestellt wird, und die sich bald in einen ganz bösen Weihnachtsmann mit Hackebeilchen verwandelt. Der Rest ist klar: Gretel stösst die Hexe in den Ofen und die dieser zu kleinen Wichtelmännern verwandelten Kinder werden durch das Geschwisterpaar erlöst. Dann tauchen auch die Eltern auf, umarmen die wiedergefundenen Kinder und der Vater stimmt das Lied „Wenn die Not am höchsten ist…“ an. Die Kinder sind glücklich über ihre Befreiung. Ein Happy-End. Allerdings, der Vater greift zur Flasche, denn das ist sein Traum, in den er vor der bitteren Armut flüchten kann.  Die Kinder sind zwar vom Hexenzauber erlöst, werden aber arm bleiben, denn die Oper zeigt keinen Weg in eine bessere Wirklichkeit. Zeigt die Musik eine Hoffnung auf? Der hymnische Schluss, schon fast überirdisch schön, ist wohl auch nur eine geträumte Realität?…


Markus Brück (Peter Besenbinder), Marina Prudenkaya (Gertrud). Foto: Tanja Dorendorff

Robert Carstens hat mit Gideon Davey (Bühnenbild und Kostüme) und Philippe Giraudeau (Choreographie) eine ganz und gar nicht märchenhafte Deutung gegeben. Aber vielleicht doch ein geträumtes Märchen von einem besseren Dasein in der bitteren Welt von heute?

Als Hänsel und Gretel waren Anna Stéphany und Olga Kulchynska mit frischen Stimmen und jugendlicher Körpersprache ideal besetzt. Wir haben die beiden jungen Sängerinnen letzte Saison als höchst überzeugendes Liebespaar in Bellinis „Capuleti e Montecchi“ bewundert. Nun also die beiden als glaubhaftes Geschwisterpaar Hänsel und Gretel. Die nach-wagnerischen Klangmassen aus dem Orchestergraben vermochten sie gut zu bewältigen. Sehr gut gelang dies Markus Brück mit vollklingendem Bariton als ausgezeichneter Besenbinder, der eine echt tragische Figur auf die Bühne zu stellen vermochte. Marina Prudenskaya zeigte in der Doppelrolle als Mutter und Knusperhexe erstaunliche Wandlungsfähigkeit und scheute sich auch nicht, ausdrucksstark schneidende Töne zu intonieren. Ansprechend Hamida Kristoffersen als Sandmännchen und Sen Guo als Taumännchen. Hervorragend die Tänzer mit Pouria Abbasi, Michel Briand, Kemal Dempster, Ivan Larson, Henry Monsanto, Vida Peña, Oliver Pfulg und Brian Witschi (Choreographie: Philippe Giraudeau).     

Der Kinderchor und die SoprAlti sowie der Zusatzchor der Oper Zürich (Einstudierung: Janko Kastelic) haben zum grossen Erfolg dieser Produktion wesentlich beigetragen.

Die Philharmonia liess die eingängigen Melodien der Oper schön erklingen, nur zuweilen hätte etwas weniger Klangfülle nicht geschadet. Markus Poschner dirigierte das Wunderwerk, ohne je den Spannungsbogen zu verlieren: er setzte dramatische Höhepunkte und gelangte zu verinnerlichten lyrischen Momenten.

Es zeigt sich einmal mehr, dass ein solches Meisterwerk zeitlos ist und – in welcher Interpretation auch immer – man stets zu neuen Einsichten gelangen kann.  

John H. Mueller

 

 

 

 

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