Georges Bizet: Carmen • Opernhaus Zürich • Vorstellung: 11.05.2024
(9. Vorstellung • Premiere am 07.04.2024)
Eine Koproduktion mit der Opéra Comique, Paris
Ein wenig mit den Konventionen eines Theaterbesuchs vertrautes Publikum
Bizets «Carmen» zählt den populärsten Opern des Repertoires. So liegt die Vermutung nahe, die Genese des Werkes sei «ausgeforscht» und die Erkenntnisse in einer kritischen Edition niedergelegt.
Foto © Monika Rittershaus
Dem ist nicht so: Im Bärenreiter-Verlag ist nun die Urfassung von 1874 in der Edition Paul Prévost erschienen. In dieser Edition unterscheidet Prévost die «Version 1874», die «Version 1874/75» und die «Version 1875». Die «Version 1875» konzipierte Bizet kurz vor seinem Tod am Tag der 33. Aufführung der «Carmen». Diese beim Verlag Choudens erschienene, auf Gesang und Klavier reduzierte Fassung, sollte später Bizets Studienfreund Ernest Guiraud bearbeiten, die gesprochenen Dialoge durch Rezitative ersetzen, Striche und Veränderungen der Instrumentation vornehmen. Diese Fassung, in deutscher Übersetzung, wurde an der Wiener Hofoper am 23.10.1875 zum ersten Mal gezeigt (gedruckt 1877). Von hier trat «Carmen» ihren Siegeszug um die Welt an. Als die Opéra in Paris auf den Erfolgszug aufspringen wollte, untersagte einer der Librettisten, Ludovic Halévy, die Aufführung. In die Gesamtausgabe seiner mit Henri Meilhac verfassten Werke ausdrücklich die Version als Opéra-comique auf, die an der Pariser Opéra comique seither gut 3000mal gezeigt wurde. Als «Version 1874/75» versteht Prévost die Partitur im Zustand nach den Proben und den ersten Aufführungen. Die «Version 1874» ist das Werk, wie es zu Beginn der Proben vorlag, von Bizet in der Absicht konzipiert, möglichst eng am Drama zu bleiben, noch unbeeinflusst von den Anforderungen und Einflüssen des praktischen Theaterlebens. Hier fehlen noch die Habanera Carmens und zwei der drei getanzten Zwischenaktsmusiken; das Finale ist deutlich erschütternder als das späterer Versionen. Bizet hat zahlreiche der «mélodrames», der gesprochenen Dialoge zu orchestraler Begleitung, mit grösstem musikalischem Esprit gestaltet.
Die «Version 1874» ist also die Fassung erster Hand und zu bevorzugen, da sie am stärksten den Ideen Bizets entspricht, das stärkste musikalische Profil aufweist und den grössten Bruch mit den herrschenden Konventionen darstellt.
Ein Fassung letzter Hand gibt es nicht, da die vorliegenden Rezitativ-Fassungen auf Grund der Beteiligung von Guiraud und den entsprechenden Entstellungen. Hinzu kommt, dass Bizet selbst schon eine Rezitativ-Fassung geplant hatte. Dann kam ihm aber der Tod dazwischen.
1967 erschien die erste kritische Edition von Fritz Oeser, im 21. Jahrhundert dann die neuen kritischen, auf dem Urtext und Klavierauszügen erster Aufführungen beruhenden Editionen Robert Didion (für den Verlag Schott) und Richard Langham-Smith (für die Edition Peters). In Zürich gespielt wird die Fassung Opernhaus Zürich / Opéra-Comique, Paris (April 2023) auf der Grundlage der Edition von Richard Langham Smith.
Intendant Andreas Homoki sieht seine Inszenierung als «Hommage an die Opéra Comique, an die Reise, die diese Oper und der Mythos «Carmen» seit der Zeit der Uraufführung bis in unsere Tage angetreten haben: Die ersten beiden Akte spielen bei uns in der Zeit der Uraufführung, der dritte Akt, der für Illegalität und Unbehaustheit steht, in der stillgelegten Opéra Comique während der deutschen Besatzung; Menschen, die vielleicht in der Résistance sind, finden hier Unterschlupf oder lagern ihre Waren für den Schwarzmarkt. Im vierten Akt erreichen wir schliesslich unsere Gegenwart». Dieses Konzept funktioniert, wenn man es als Hommage an die Opera comique «Carmen» versteht, nicht. Mit Bühnenraum der Opéra comique, den Seitenwänden und der Rückwand inklusive Vorhang, kann es eine Hommage an jedes dort uraufgeführte Stück sein, also eine Hommage an die Institution. Der visuellen Komponente des Abends ist so alles genommen, was an die Opera comique «Carmen» erinnern würde. Wenn man das Spanien, wie man es von «Kitschpostkarten mit Flamencotänzerinnen und aufgeklebtem Stoff in Glitzer» kennt, nicht auf der Bühne sehen will, wäre es doch eine Hommage an die Opera comique «Carmen» gewesen, hätte man die ersten beiden Akte als Inszenierung der Uraufführungszeit, den dritten Akt als Inszenierung der Kriegszeit und den letzten Akt als Regietheater der Gegenwart gezeigt? Damit wäre auch der mit ermüdender Regelmässigkeit bewegte Vorhang vermieden, da keine de facto leere Bühne belebt werden muss (Choreographie: Arturo Gama). Der Bühnenraum der Opéra comique als Bühnenbild stammt von Paul Zoller, die wenig phantasievollen Kostüme von Gideon Davey.
Die Philharmonia Zürich spielt leidenschaftlich und hochkonzentriert. Gianandrea Noseda führt sie noch etwas laut durch Abend, nimmt dabei aber Rücksicht auf die Sänger. Janko Kastelic hat den Chor der Oper Zürich, den Kinderchor der Oper Zürich und die SoprAlti der Oper Zürich tadellos einstudiert.
Marina Viotti gelingt eine achtbare Carmen, eine Carmen wie «frisch vom Konservatorium». Die volle, runde Stimme ist gut geführt, die Höhen und Tiefen gut mit der Mittellage verbunden. Das grosse Manko sind die Emotionen: weder sind sie in der Verkörperung der Rolle zu erahnen noch gibt es etwas, das die Figur begehrenswert machen würde. Natalia Tanasii singt die Micaëla als gelte es die Carmen zu geben. Die Stimme wird zu breit, zu dramatisch und mit zuviel Vibrato geführt. Niamh O’Sullivan als Mercédès und Uliana Alexyuk als Frasquita fallen mit markanten Stimmen und mässiger Diktion auf. Saimir Pirgu als Don José fühlt sich in der Konzeption der Rolle mittlerweile wohler und teilt die Kräfte gut ein. Für die höheren Passagen flüchtet er sich gern in die Kopfstimme. Łukasz Goliński gibt einen «klassischen» Escamillo und legt das Hauptgewicht auf kraftvolles Singen. Spencer Lang als Le Remendado, Jean‐Luc Ballestra als Le Dancaïre, Aksel Daveyan als Moralès und Stanislav Vorobyov als Zuniga ergänzen mit charakterstarken Rollenporträts das Ensemble.
Stark gezeichnet war der Abend durch ein wenig mit den Konventionen eines Theaterbesuchs vertrauten Publikum.
Weitere Aufführungen: Mi. 15. Mai, 19.00; Mi. 12. Juni, 19.00; Sa. 15. Juni, 20.00.
Oper für alle am 15. Juni 2024:
13.05.2024, Jan Krobot/Zürich