Michael Volle (Boris). Foto: Monika Rittershaus
Zürich: Boris Godunow – Premiere am 20.9.2020
Der Gottesnarr wird wahnsinnig…
Das Opernhaus Zürich hat sich Einiges einfallen lassen, um die zugelassene Zahl von Personen möglichst gewinnbringend aufrecht zu erhalten. Chor und Orchester wurden ausquartiert und werden per Glasfaserkabel – ohne Verzögerung – in den Saal gebeamt. Im Orchestergraben, wo nun keine Musiker sitzen, sind hochfrequente Lautsprecher aufgestellt, und zwar jeweils dort, wo die einzelnen Instrumentengruppen sonst sitzen. Der Effekt ist verblüffend! Der Chorklang wird vom Schaltpult aus reguliert und durch ein ausgeklügeltes Surround-Sound-System im ganzen Saal verbreitet. Die Sängerinnen und Sänger treten live auf und singen auch live. Die Abmischung mit dem verstärkten Klang ist erstaunlich, dürfte aber noch optimiert werden, insbesondere was die Lautstärke betrifft. Sicher, wenn man beckmessern will, gibt es noch immer einen Quanten-Unterschied vom übertragenen Orchesterklang zu dem von einem aktuell im Orchestergraben spielenden Klangkörper. Aber das ist immerhin eine optimale Lösung, solange die Corona-Massnahmen in Kraft sind, die solches gebieten.
Barrie Kosky hat sich mit grossem Engagement in dieses abenteuerliche Unternehmen gestürzt und Lösungen für diese Chor-Oper par excellence gefunden, die – unter den gegebenen Umständen – auch vom Inszenierungskonzept einleuchtend sind.
Kosky verlagert die Geschichte, zumindest den Anfang davon, in eine Bibliothek (Bühnenbild: Rufus Didwiszus, Lichtgestaltung Franck Evin) in ein Archiv, wo die Bücher und Schriften wie von selbst zu singen beginnen und die Handlung beschwörend in Gang bringen. Es ist auch durchaus real, dass Pimen an seiner Chronik, unterstützt von Recherchen mittels Computer, in einem solchen Raum arbeitet. Der Gottesnarr, der Einfältige, wird schon hier Zeuge des ganzen Geschehens. Er hat auch seine Klage, die am Schluss der Oper wie ein Menetekel klingt, schon zu Beginn der Oper angetönt.
In der hier in Zürich gespielten Originalfassung mit dem eingeschobenen Polen-Akt, der sich auch musikalisch total von den russischen Bildern abhebt, ist nun das nüchterne Archiv einem kalten, goldenen Saal gewichen. Dagegen wird der Schlussakt, also im sog. Revolutionsbild im Kromy-Wald, wo eben kein Chor auftritt, nun ganz auf den Gottesnarren fokussiert. Nachdem eine riesige Kirchenglocke heruntergefahren wurde, sieht man als klaffendes Loch im Bühnenboden eine grosse, kreisrunde Öffnung, von welcher nacheinander alle handelnden Personen verschluckt werden. Dies nachdem der Gottesnarr, nun wirklich durch die Geschehnisse wahnsinnig geworden, alle Bücher hinuntergeworfen hatte. Am Schluss ist die Bühne leer, Personen und Erinnerung sind im Schwarzen Loch verschwunden: keine Zeugen mehr, keine Erinnerung mehr! Eine Frage bleibt noch, welchen Inhalt wohl die eilig hingeworfenen Zeilen beinhalten, die der Gottesnarr – zu Beginn in der Bibliothek – zwischen den Büchern wohl als „Flaschenpost“ versteckt hatte…
Die Besetzung ist durchwegs fabelhaft. Als Boris konnte Michael Volle einmal mehr seine reiche Nuancierungskunst sowohl im Gesanglichen auch als im Darstellerischen einbringen. Hier wird der vom schlechten Gewissen geplagte Zar paranoid und in den Wahnsinn getrieben. Ergreifend seine Gespräche mit seinem Söhnchen Fjodor (in der Premiere: Mika Mainone), wo Volle diese geheimnisvollen Melodien Mussorgskys wunderbar zum Erklingen brachte.
Oksana Volkova (Marina), Johannes Martin Kränzle (Rangoni). Foto: Monika Rittershaus
Erschütternd die Todesszene, als sich Boris, nur noch ein menschliches Wrack, dem Gottesnarren öffnet. Eine grossartige Leistung! – Die beiden andern „grossen“ Bässe waren mit Brindley Sherratt als Pimen und Alexei Botnarciuc als Waarlam blendend besetzt. Nach dem Lied von Kasan gab’s für den Sänger Sonderapplaus. Der falsche Dimitry erfuhr durch die Besetzung mit Edgaras Montvidas eine prägnante Ausformung, die er mit seinem klar geführten Charaktertenor sängerisch und auch darstellerisch voll einlösen konnte. Die vom schleimigen Jesuiten Rangoni von Johannes Martin Kränzle – mit charakteristisch eingefärbtem, fast zu schönem Bariton – manipulierte Marina von Oksana Volkova tat alles, um die ehrgeizigen Absichten dieser berechnenden Frau darzustellen. Ihr Mezzo scheint etwas zu hell für die Partie, aber sie wird, unterstützt durch eine gute Diktion, eine abgesicherte Stimmführung und eine einleuchtend heuchlerische Darstellung (in eleganter Gewandung: Kostüme: Klaus Bruns) sehr wohl ihr Ziel erreichen, Zarin zu werden. Ihr in den Absichten nicht unähnlicher Schuiski war John Daszak, als ein hervorragend fieser Intrigant unter „netter Miene“.
In weiteren Partien seien hier stellvertretend genannt: Lina Dambrauskaité als elegische Xenia, Irène Friedli als herrlich ordinär dralle Schankwirtin (die immerhin liest!) und Konstantin Shushakov als Schtschelkalow mit seinem Qualitätsbariton, uns in Erinnerung als Dr. Malatesta und Guglielmo.
Und last but not least sei hier der Gottesnarr von Spencer Lang genannt, der in dieser Inszenierung aufgewertet wurde und diese Aufgabe hervorragend gemeistert hat. Sein lyrischer Tenor war für die Partie absolut richtig – so strahlt der Gottesnarr jene Unschuld des Einfältigen, wie er auch bezeichnet wird, aus.
Der Chor des Opernhauses Zürich (Einstudierung Ernst Raffelsberger) war wirklich grossartig. Er erreichte in der Tat diesen manchmal grob skizzierten Klang der russischen Chöre, mit diesen tiefen Bässen, den gellenden Tenören, den warmen Altistinnen und den – und hier durchaus positiv angesagt – den schneidenden Sopranen: fabelhaft!
Die Philharmonia spielte die Original-Instrumentation Mussorgsky (in der sogenannten Zürcher Fassung) in seiner ganzen Urtümlichkeit, wie aus der tiefsten Seele des russischen Volkes tönend, unter der engagierten Leitung des Dirigenten Kirill Karbabits, dessen Namen man sich unbedingt merken sollte.
Also eine Respekt gebietende, grossartige Leistung des ganzen Opernhauses, das hier der Pandemie getrotzt hat. Bravissimi tutti!
John H. Mueller