Christian Gerhaher und Ensemble. Copyright: Paul Leclaire
Zürich: LUNEA – Uraufführung von Heinz Holliger – 4.3.2018
Meine Seele sieht sich mit dem Leid vorüber fließen…(Originalton Lenau)
Seit der Uraufführung 1998 von „Schneewittchen“ hat Heinz Holliger keine Oper mehr geschrieben. Nun kehrt der Schweizer Komponist mit der Uraufführung seiner neuen Oper „Lunea“ (Wortspiel aus Lenau und Luna = Mond, mondsüchtig) an das Opernhaus Zürich zurück. Mit dem Librettisten Händl Klaus wurde nicht die ereignisreiche Biographie des Biedermeier-Dichters Niklaus Lenau abgebildet, sondern das kreative Team hat sich auf die „Blätter“ – eine Zettelsammlung von literarischen Eingebungen, die sein Schwager Schurz herausgegeben hatte – gestützt und daraus in einer Art träumerischer Reminiszenz einen Ablauf von 23 Kurz-Impressionen gebaut. Die einzelnen Bilder sind in durchkomponierter Weise zu einem insgesamt eindreiviertelstündigen Opus verdichtet. Die 23 Bilder sind demnach nicht in traditioneller Dramaturgie geordnet, sondern scheinen auf wie Traumbilder, offenbar nicht zusammenhängend und wie durch Zufall ablaufend. Interessant, dass ab dem elf-ein-halbten Bild die Abfolge der „Blätter“ gespiegelt wird und quasi rückwärts läuft.
Intendant und Regisseur Andreas Homoki hat mit dem Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann eine Art „Laterna magica“ auf die Bühne gestellt, in der die einzelnen Szenen jeweils wie nach einer Schwarzblende in einem Film aufscheinen. Die 23 Bilder umfassen ja auch fast die 24 Bilder pro Sekunde eines traditionellen Filmwerkes.
Juliane Banse, Christian Gerhaher. Copyright: Paul Leclaire
In diesen Bildern erfährt man in Zeitlupen-artigen Sequenzen den langsamen, geistigen Zerfall des Dichters Lenau, der ja tatsächlich in geistiger Umnachtung verdämmert ist. Diese Entfremdung von der Gesellschaft und letztlich von sich selbst, ist das Hauptanliegen dieses Fast-Monodrams, das in Christian Gerhaher einen idealen Interpreten findet. Hatte schon Gerhahers Verkörperung von Bergs „Wozzeck“ fasziniert, so findet auch hier der Sänger zu einer unüblichen Darstellung des Wahnsinns. In eckigen und verdrehten Bewegungen und einem wahrlich verstörend irren Blick äussert sich der Irrsinn des Dichters. Seine Umgebung provoziert umso mehr die geistige Verwirrung, als ihn seine „ferne Geliebte“ Sophie von Löwenthal in zerstörerischer Weise an sich bindet und jede Verbindung mit einer anderen Frau torpediert. Diese unerreichbare Geliebte wurde durch Juliane Banse verkörpert, die auch schon vor 20 Jahren das Schneewittchen uraufgeführt hatte. Hier war sie nun die gereifte Frau, die nicht geopfert wird, sondern selbst in eigensinniger Weise dabei wohl in Kauf nimmt, dass Lenau dabei vor die Hunde geht. Auch die Verehrung für die berühmte Sängerin Caroline Unger, die von Sarah Maria Sun dargestellt wird und die in einem Liederabend in den höchsten Vierteltönen den Dichter wohl um den letzten Verstand bringt, befördern nur den geistig zerrütteten Zustand des Dichters. Die „ewige Braut“, ebenfalls von derselben Sängerin Sarah Mari Sun verkörpert, hat da keine guten Karten gegenüber Sophie, die zudem noch in der Rolle der Mutter auftritt. Federico Ituarte war der stumme Gatte von Sophie; interessant, dass gerade er stumm besetzt ist!
Lediglich sein Schwager Anton Schurz (Ivan Ludlow), der Mann seiner Schwester Therese (Annette Schönmüller), kann ihm beistehen und tritt so auch quasi als sein „Alter Ego“ in Erscheinung. Eine in stilvolle Biedermeier-Kostüme (Klaus Bruns) gekleidete Gesellschaft entfremdet sich Lenau immer mehr, geht auf Distanz und ist doch irgendwie betroffen, schreitet aber nicht helfend ein.
Und wie gesagt, wird der ganze Abend von der Persönlichkeit Christian Gerhahers getragen, der für die unglückliche Figur sogar Empathie entwickeln kann. Wie man aus historischen Quellen weiss, war ja Lenau kein „umgänglicher“ Charakter, der es „einem leicht machte“. Gerhaher singt, flüstert, intoniert Vierteltöne und stellt den faszinierenden Dichter Lenau in seinem letzten Stadium vor dem Hindämmern eindringlich dar. Neben dem hervorragenden Sänger-Ensemble darf auf keinen Fall die Mitwirkung von 12 Sängerinnen und Sängern der Basler Madrigalisten (Einstudierung: Raphael Immoos) unterschlagen werden. Die nahezu solistisch besetzten Sängerinnen und Sänger singen lupenrein und ganz natürlich – soweit das möglich ist – und stellen die Biedermeier-Gesellschaft in dieser traumartigen Atmosphäre überzeugend dar. Und die Musik von Heinz Holliger, die von der Philharmonia – mit dem fabelhaften Violin-Solo der Konzertmeisterin Hanna Weinmeister – äusserst konzentriert und klangvoll unter der Leitung des Komponisten Heinz Holliger aufgeführt wird, stellt diese traumartige Atmosphäre erst her. Da hören wir unglaublich schöne Klänge – nichts von schmerzenden Disharmonien oder „Épatez le bourgeois“-Aggressionen – und Klangzaubereien, die einem – fast wie Lenau selbst – den Boden unter den Füßen wegziehen lassen. Nach fast zwei Stunden dieser Klangwelten vermisst man dann aber doch etwas die sinnlich erotische Kraft der Musik. Die Musik findet keinen „Gegenklang“, sondern bleibt in ihrer Klangwelt, sie schwebt, irrlichtert und schleicht sich in einen hinein.
Hier nun haben sich die Kräfte des Opernhauses Zürich zu einer selten gelebten Einheit des künstlerischen Ausdrucks zusammengefunden. Ein nicht leicht verdaulicher, aber umso nachhaltiger wirkender Opernabend der ganz eigenen Art.
John H. Mueller