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ZÜRICH/ Landesmuseum: AUSSTELLUNG „DIE SCHALTSTELLE DER MACHT“. Bundesrätinnen und Bundesräte seit 1848

08.03.2021 | Ausstellungen

AUSSTELLUNG: Bundesrätinnen und Bundesräte seit 1848, Landesmuseum Zürich, 02.03.2021 – 07.11.2021

 Die Schaltzentrale der Macht

«Der Bundesrat ist die oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes.»
«Le Conseil fédéral est l’autorité directoriale et exécutive suprême de la Confédération.»
«Il Consiglio federale è la suprema autorità direttiva ed esecutiva della Confederazione.»
«Il Cussegl federal è l’autoritad directiva ed executiva suprema da la Confederaziun.»

Artikel 174 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Seit 1848 die moderne Schweiz entstand, regiert der Bundesrat den Bundesstaat Schweiz als Kollegialbehörde mit sieben gleichgestellten Mitgliedern. Die Vereinigte Bundesversammlung, die gemeinsame Versammlung der beiden Parlamentskammern (Nationalrat und Ständerat), wählt alle vier Jahre sieben SchweizerInnen in den Bundesrat und jedes Jahr eines der sieben Mitglieder als «primus inter pares» («Erster unter Gleichen») zur Bundespräsidentin oder zum Bundespräsidenten. Das Kollegium sollte, um die Schweiz als Willensnation abzubilden, nach Parteien, Sprachen (4 Landessprachen), Herkunft (23 Kantone und 6 Halbkantone) und Geschlecht möglichst ausgewogen zusammengesetzt sein (Art. 175 Abs. 4 BV). Die Ausstellung stellt die 119 BundesrätInnen seit 1848 steckbriefartig in der Ausstellung wie im gratis abgegeben Büchlein vor.

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Der Bundesrat von 1848: Die Bundesversammlung wählt 1848 die ersten sieben Bundesräte: Jonas Furrer, Ulrich Ochsenbein, Henri Druey, Josef Munzinger, Stefano Franscini, Friedrich Frey-Hérosé, Wilhelm-Matthias Näff; Copyright: Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv.

Das Erfordernis der ausgewogenen Zusammensetzung wie auch das Kollegialitätsprinzip (Art. 177 Abs. 1 BV: es wird ein Kompromiss gesucht, nach Aussen wird nur der Kompromiss/Mehrheitsentscheid vertreten) sorgten und sorgen immer wieder für Diskurse. So war der erste Bundesrat mit seinen Mitgliedern aus den Kantonen Zürich, Bern,Waadt, Solothurn, Tessin, Aargau und St.Gallen nur bedingt ausgewogen besetzt. Es ist weder die Katholisch-Konservative Partei noch deren damalige Hochburg, die katholische Innerschweiz, vertreten. Gut zwanzig Jahre nach dem Kulturkampf, 1892, wurde mit Josef Zemp der erste Katholik in den Bundesrat gewählt. 1913 wurde mit Felix Calonder der erste und bisher einzige Bundesrat rätoromanischer Muttersprache in den Bundesrat gewählt. 1984 wurde mit Elisabeth Kopp die erste Frau gewählt, 1993 mit Ruth Dreifuss die erste Jüdin.

Einzelne Bundesräte werden in der Ausstellung gesondert behandelt, so die Ersten, die Nicht-Wiedergewählten, die «dramatisch Zurückgetretenen», die «Besonderen» und jene, die ihre Wahl nicht angenommen haben.

Der Thurgauer Liberale Fridolin Anderwert (1828-1880) wurde nach einer glänzenden politischen Karriere am 10. Dezember 1875 in den Bundesrat gewählt. Dort machte er sich zusammen mit Bundesrat Erich Welti durch die Schaffung des Obligationen- und Handelsrecht verdient. Nach dem Anderwert am 7. Dezember 1880 für das folgende Jahr zum Bundespräsidenten gewählt wurde, kam zu den parteipolitischen Auseinandersetzungen noch eine gehässige Medienkampagne hinzu. Während die Partei ihm seine Weigerung, blind den Parteiinteressen zu folgen, als Verrat auslegte (ein Vorwurf, der vereinzelt in der Gegenwart noch gegenüber Bundesräten geäussert wird), machten sich die Medien über die Essgewohnheiten des übergewichtigen Bundesrats lustig und unterstellten ihm Bordellbesuche. Anderwerts «dramatischer Rücktritt» erfolgte am Weihnachtstag 1880: Er, der geplant hatte, Mutter und Schwester in Zürich zu besuchen, beging auf der Kleinen Schanze in Bern Suizid.

Zu den «besonderen Bundesräten» gehörte der Basellandschafter Liberale Emil Frey (1838-1922). Dem ältesten Sohn des einflussreichen Juristen und Politikers Emil Remigius Frey (1803-1889) wären alle Möglichkeiten offen gestanden. Nach mageren schulischen Leistungen und einem abgebrochenen Studium der Agrarwissenschaften in Jena emigrierte er aber in die Vereinigten Staaten um dort die Farmwirtschaft kennenzulernen. Als 1861 derSezessionskrieg meldete sich Frey als Freiwilliger und kämpfte auf Seiten der Nordstaaten im deutschen Regiment des Forty-Eighter Friedrich Heckert, wo er bis zum Major aufstieg. In der Schlacht von Gettysburg gefangengenommen, verbrachte er eineinhalb Jahre in Gefangenschaftim Libby-Gefängnis in Richmond (Virginia). Vor seiner Rückkehr in die Schweiz nahm er noch die amerikanische Staatsbürgerschaft an, wurde also Doppelbürger. Zurück in der Schweiz folgte dann eine politische Karriere wie aus dem Bilderbuch, gekrönt von sechs Jahren (1891-1897) im Bundesrat. Ein umfassendes Rüstungsprogramm konnte er umsetzen, mit der Revision der Militärartikel der Bundesverfassung scheiterte er aber vor dem Volk. Aus Enttäuschung trat er noch am Abstimmungstag zurück. Moch im gleichen Jahr wählte der Bundesrat Frey zum Vorsitzenden der Internationalen Telegraphen-Union. Am 1. August 1921 trat Frey von allen Ämtern zurück. Am Heiligabend des folgenden Jahres starb er in Münchenstein. Weder die Doppelbürgerschaft noch der Kampf in eine fremden Armee waren für Frey als Bundesrat ein Problem: der amtierende Bundesrat Ignazio Cassis entschied sich vor seiner Kandiatur für den Bundesrat seine italienische Staatsbürgerschaft zurückzugeben.

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Magistraler Hut: Bundesrat Alain Berset, Gesundheitsminister und oberster Krisenmanager, trägt in der Corona-Zeit auf dem Weg zum Medienzentrum stets einen Hut, der schweizweit Aufmerksamkeit erregt; Copyright: Foto: Schweizerisches Nationalmuseum.

Schwere Krisen fordern den Rechtsstaat und die regulären Abläufe der Gesetzgebung, das formelle Gesetz und die Verfügung, heraus. Demokratische Staaten begegnen aussergewöhnlichen Herausforderungen mit einem Notrecht («extrakonstitutionellen Staatsnotrecht»). Damit werden der Regierung weitgehende Massnahmen- und Verordnungsbefugnisse übertragen. In der Schweiz wurde Notrecht letztmalig 2020 in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie angewendet. Am 16. März 2020 erklärte der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» gemäss Epidemiengesetz. Mit dem Wechsel von der ausserordentlichen in die besondere Lage am 19. Juni 2020 war diese letzte Notrechts-Phase beendet.

Vor der COVID-19-Pandemie wurde Notrecht letztmalig im Zweiten Weltkrieg angewendet. Mit dem «Bundesbeschluss über Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität vom 30. August 1939» übertrug das Parlament dem Bundesrat ausserordentliche Vollmachten. Mit diesebn Vollmachten führte der Bundesrat das Land durch den Zweiten Weltkrieg und nahtlos in den beginnenden Kalten Krieg. Erst Ende 1952 hob die Bundesversammlung die letzten Vollmachtenerlasse auf.

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Bundesräte eröffnen die Landesausstellung 1939: Bundespräsident Philipp Etter (Mitte) am festlichen Umzug zur Eröffnung der Landesausstellung in Zürich 1939; links: Marcel Pilet-Golaz, rechts: Giuseppe Motta, hinten: Rudolf Minger; Copyright: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv.

Der Zuger Katholisch-konservative Philipp Etter (1891-1977) sass ein Viertel-Jahrhundert, von 1934 bis 1959, im Bundesrat, was ihm den Spitznamen «L’Etternelle» einbrachte. Etter war massgeblich an der Entwicklung der sogenannten Geistigen Landesverteidigung («Der schweizerische Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren») beteiligt und setzte sich als begnadeter Redner in zahlreichen Auftritten für diese ein. Die Landesausstellung («Landi») 1939 war die ideale Plattform, um die «Geistige Landesverteidigung» als dritten Pfeiler neben der militärischen und wirtschaftlichen Landesverteidigung dem Volk zu präsentieren. Die geistige Landesverteidigung war die Reaktion des Kleinstaats auf die faschistische Bedrohung von aussen und wurde von allen demokratischen Kräften der Zeit getragen: das Gefühl der «Einheit in der Vielheit» ermöglichte es die tiefen Gräben zwischen Kulturen und Klassen zumindest temporär zuzuschütten. Die Geistige Landesverteidigung hat massgeblich dazu beigetragen, dass die Schweiz den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat. Nach der Bewährung im Zweiten Weltkrieg wurde aus dem «Landigeist» das «Reduitdenken» im Kalten Krieg. Während des Zweiten Weltkrieges vertrat Etter eine betont vorsichtige, anpassungsfreundliche Politik gegenüber Nazi-Deutschland und besonders rücksichtsvolle Haltung gegenüber Italien, die in der historischen Rückschau kritisch beurteilt werden. In der Phase der wirtschaftlich-sozialen Neuordnung nach 1945 vermochte Etter mit dem Ausbau des Sozialstaates, dem Ausbau der Alters- und Hinterlassenenversicherung, und der Einführung der Invalidenversicherung wichtige Akzente zu setzen.

Der begehbare Nachbau des Bundesratssitzungszimmer durch das Kollektiv Krönlihalle dürfte für viele Besucher ein Höhepunkt der Ausstellung sein.

Eine kleine, sehr feine Schau, die Inspiration zu intensiverer Beschäftigung mit den Persönlichkeiten des Bundesrats gibt.

07.03.2021, Jan Krobot/Zürich

 

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