AUSSTELLUNG: CLOSE-UP. EINE SCHWEIZER FILMGESCHICHTE • Landesmuseum Zürich • 12.01.2024 – 21.04.2024
Sergej Eisenstein, Lisa della Casa, Therese Giese
Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Praesens-Film AG, der älteste noch existierende Filmgesellschaft der Schweiz, zeigt das Landesmuseum eine kleine, aber feine Schau. Dabei werde interessante Verbindungen aufgedeckt.
Foto links © Cinémathèque suisse, Foto rechts © Jan Krobot
Die Kuratoren der Ausstellung (Aaron Estermann und Rahel Grunder) fokussieren ihren Blick auf die 1930er- bis 1950er-Jahre, als die Praesens-Film auf dem Schweizer Markt praktisch konkurrenzlos war und Erfolge im In- und Ausland feiert.
Gründer der Praesens-Film war der aus Piotrków Trybunalski (Woiwodschaft Łódź, Polen) gebürtige Lazar Wechsler. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Mutter und Bruder auf der Durchreise in der Schweiz, beschloss die Familie in der sicheren Schweiz zu bleiben. In der Folge studierte Wechsler an der ETH Zürich Ingenieurwesen (1919 Abschluss als Diplomingenieur). 1923 erhielt er die Schweizer Staatsbürgerschaft. Am 19. März 1924 gründeten Wechsler, seine Gattin Amalie geb. Tschudi und der Medien-Unternehmer und Flugpionier Walter Mittelholzer (Mittelholzer und Co., Luftbildverlagsanstalt und Passagierflüge, 1920 mit Ad Astra Aero zusammengeschlossen und Basis der späteren Swissair) die Praesens-Film (Grundkapital von 10.000 Franken). Auftragsfilme waren die Basis des Erfolgs der Praesens-Film. Dazu gehören «Das genossenschaftliche Zürich» und «Frauennot – Frauenglück», ein stummer Dokumentarfilm mit Spielhandlung «Frauennot – Frauenglück» schildert das Elend von Frauen, die ungewollt schwanger werden. Auf Bilder des Leidens und des Todes der Frauen, die heimlich eine illegale Abtreiberin aufsuchen, folgen im zweiten Teil mit medizinischen Informationen Aufnahmen aus den Räumen der Zürcher Universitätsklinik , wo problemlos und sicher abgetrieben wird. Geschnitten haben den Film Sergej M. Eisenstein, Eduard Tissé (Kameramann Eisensteins) und Lazar Wechsler.
Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg rief der Schweizer Bundesrat zur Mobilmachung auf: Neben der militärischen und wirtschaftlichen Landesverteidigung forderte er auch eine geistige Landesverteidigung, die Betonung des Schweizerischen zur Abwehr der Totalitarismen der Nachbarländer abzuwehren. In diesem Zusammenhang kam es dann 1938 zur Schaffung der privatrechtlich organisierten und vom Bund subventionierten Kulturstiftung Pro Helvetia. Die Landesausstellung 1939 stand ganz im Zeichen der geistigen Landesverteidigung. Zu den erfolgreichsten Filmen der Landesverteidigung zählen «Füsilier Wipf» (1938; in einer Nebenrolle Lisa della Casa) und «Gilberte de Courgenay» (1941). Beide Filme beschäftigen sich mit der Grenzbesetzung im Ersten Weltkrieg und beide Drehbücher stammen von Richard Schweizer. Lazar Wechsler und die Praesens-Film setzten in dieser Zeit ganz auf Künstler vom Schauspielhaus Zürich, ab 1938 die einzige freie deutschsprachige Bühne. Anne-Marie Blanc und Heinrich Gretler spielten auf der Bühne und vor der Kamera und Leopold Lindtberg inszenierte für Bühne und Kamera. Alle Beteiligten bekamen immer wieder zu spüren, dass sie Emigranten waren.
Als sich 1942 die Kriegslage zu wenden begann, rückte, ganz im Einklang mit der Geistigen Landesverteidigung, die «Humanitäre Tradition» der Schweiz in den Fokus und bestätigt damit das Publikum im nationalen Selbstverständnis («Praesens-Humanismus). Bedeutendster Film dieser Epoche ist «Marie-Louise» (1944), die Geschichte eines französischen Mädchens, das während des Zweiten Weltkriegs dank der Kinderhilfe des schweizerischen Roten Kreuzes für drei Monate von einer Schweizer Familie (darunter auch die Familien von Lazar Wechsler und Richard Schweizer) aufgenommen wurde. Für das Drehbuch zu «Marie-Louise» erhielt Richard Schweizer 1946 einen Oscar: den ersten Oscar für ein nicht englischsprachiges Drehbuch. Für «Die Gezeichneten» (1948) erhielt Schweizer 1949 einen weiteren Oscar („Best Motion Picture Story“, heute nicht mehr verliehen).
Ein ganz besonderes Kapitel der Praesens-Geschichte ist der Film «Die letzte Chance» von 1945, die wohl berühmteste Kinoproduktion der Schweiz. Der Film befasst sich mit der Schweizer Flüchtlingspolitik und erzählt, wie sich eine Gruppe alliierte Gefangener sich zur Schweizer Grenze durchschlägt. Neben der Thematik trugen auch die Vielzahl der im Film gesprochenen Sprachen und die Tatsache, das einzelne Schauspieler ihr eigenes Schicksal spielten, zur Aufmerksamkeit der Behörden bei, die in der Folge dem Film alle erdenkbaren Schwierigkeiten bereiteten. Es mussten zum Beispiel nicht nur jeder Kamera-Standort, sondern auch jede einzelnen Einstellung bewilligt werden. Verzögerungen und Beschlagnahme von Filmmaterial kamen regelmässig vor. Die Dreharbeiten wurden erst im April 1945 beendet: die Uraufführung fand am 9. Mai 1945 statt und wurde zum triumphalen Erfolg. Innerhalb kürzester Zeit lief der Film auch bei den West-Alliierten an: Am 27. November 1945 in New York City, am 19. Dezember 1945 in Paris und am 1. Februar 1946 in London. Am 11. April 1946 fand die deutsche Erstaufführung statt. Der Film erhielt zahlreiche Preise: Bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes wurde Leopold Lindtberg 1946 sowohl mit dem Hauptpreis (Grand Prix) als auch mit dem Internationalen Friedenspreis ausgezeichnet und 1947 erhielt Die letzte Chance in Los Angeles den Golden Globe Award für denjenigen Film, der am besten für internationale Verständigung wirbt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen «leichte» (unpolitische) Unterhaltungsfilme bei Publikum hoch im Kurs und so drehte die Praesens mit der bewährten Equipe die beiden Heidi-Filme («Heidi» 1952 und «Heidi und Peter» 1955). Robert Blum, langjähriger Praesens-Komponist, vertonte die Flucht in die Idylle. Enorm steigende Produktionskosten, künstlerische Stagnation und Konkurrenz lassen die erfolgreiche Praesens-Equipe auseinanderbrechen. Als auch Ko-Produktionen sich nicht mehr lohnen, konzentriert sich die Praesens-Film auf das Verleihgeschäft.
Die beiden Kuratoren legen in der kleinen, aber feinen Schau das Hauptgewicht auf die 1930er- und 1940er-Jahre und die beteiligten Künstler. Die Exponate dazu sind hervorragend ausgewählt und angenehm vielfältig. So brachte die Recherche nach Kostümen aus «Gilberte de Courgenay» (1941), dass nur noch das Pferdekostüm vorhanden ist. Nun ist dieses in der Ausstellung zu bewundern.
Empfehlung!
13.01.2024, Jan Krobot/Zürich