Orpheum: Young Soloists on Stage • Grosse Tonhalle Zürich • Konzert: 06.09.2024
«Women in Classical Music»
Mit einem Abend überbordender, tief beeindruckender Frauenpower beginnt das Tonhalle-Orchester die Saison in seiner Heimstatt. Einziger Mann an diesem Abend ist der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Seit sechs Jahren dauert die Kooperation der Orpheum Stiftung und der Müller-Möhl Foundation unter dem gemeinsamen Label «Women in Classical Music». Das Ziel ist die Gleichstellung, die Mission ist Veränderung. Veränderung heisst die Förderung junger Musikerinnen, heisst aber auch die Berücksichtigung klassischer Komponistinnen. «Talent kennt kein Geschlecht» und so hat die Orpheum Stiftung in ihrem Bereich bereits eine annähernde Gleichberechtigung geschafft. Die Gleichberechtigung bei den Komponistinnen ist naturgemäss schwieriger zu bewerkstelligen, denn je weiter zurück man geht, desto weniger Komponistinnen gibt es, denn sie hatten, in Sachen Ausbildung, Auftritt und Veröffentlichung ihrer Werke, schlicht nicht die gleichen Möglichkeiten wie ihre Kollegen. Umso lobenswerter, und im Ergebnis beglückend, ist die Programmation, die die Orpheum Stiftung verfolgt.
Symbol dafür ist die Karriere der Französin Louise Farrenc (1804-1875). Im Paris des 19. Jahrhunderts eine grosse Ausnahmeerscheinung. Sie ist die erste Frau in Europa, die als voll titulierte Professorin über einen Zeitraum von 30 Jahren an einem Konservatorium unterrichtet und leistet zusammen mit ihrem Gatten Aristide (Heirat 1821) ein Pionierarbeit im Bereich der «Alten Musik». Vor allem aber widerlegt sie ihre Zeitgenossen, die behaupten Frauen könnten nicht komponieren: ihre Zeitgenossen waren sich über ihr ausserordentliches Talent für eine Frau einig (für die damalige Zeit ein ausgesprochen fortschrittlicher Standpunkt). Entscheidend für Farrencs Entwicklung und Durchsetzungsvermögen war ihr persönliches Umfeld. 1804 wurde sie in eine prominente Künstlerfamilie, die Familie Dumont, die in der Künstlersiedlung an der Sorbonne lebte, hineingeboren. Skulpturen ihres Bruders Auguste stehen an der Place de Ia Concorde und der Place de Ia Vendôme. Louise Dumont genoss eine Erziehung, die es ihr ermöglichte, ihre Talente zu entdecken und auszubauen. Klavierunterricht erhielt Farrenc bei ihrer Patin und Pianistin Anne-Élisabeth-Cécile Soria, einer Schülerin Muzio Clementis (1752-1832). Ignaz Moscheles (1794-1870), Anton Reicha (1770-1836) und Johann Nepomuk Hummel (1778-1837) waren ihrer Lehrer in den Fächern Komposition, Musiktheorie und Instrumentation. So erschloss sich Farrenc eine hochinteressante Nische im sinfonischen Repertoire, die zwischen der französischen und der deutschen Einflusssphäre lag. So gibt es in ihrer Musik Mozartsche Verzierungen, italienisch inspirierte Virtuosität der Streicher und eine oft höchst innovative harmonische Sprache. Anfang der 1820er-Jahre erschienen erste Werke für Klavier im Verlage ihres Mannes und Louise Farrenc, Musiklehrerin im beim Herzog von Orleans, baute sich eine Karriere als Klavier-Virtuosin auf. 1842 wurde Farrenc auf eine Professur für Klavier am Pariser Konservatorium berufen. Nach langem Ringen erhielt sie sogar dasselbe Gehalt wie ihre männlichen Kollegen. In dieser Zeit begann sie sich dem klassisch-romantischen Stil zuzuwenden und «deutsche Gattungen» wie Kammermusik und Sinfonien zu komponieren. Lohnende Erfolge liessen sich nicht auf dem Konzert-Podium, sondern auf der Opernbühne erzielen. Mit dem Tod der Tochter Victorine 1859 endete Farrencs Karriere als Komponistin. Mit ihrem Mann Aristide wandte sie sich einem neuen Betätigungsfeld zu: der Erforschung, Aufführung und Edition älterer, zu ihrer Zeit kaum bekannter Klaviermusik. Zwischen 1861 und 1872 entstand der «Trésor des pianistes», eine 23 Bände umfassende Anthologie von Klaviermusik des 16. bis 19. Jahrhunderts. Der Trésor war die erste Anthologie dieser Art und wegweisend für die Wiederbelebung und quellentreue Edition. Louise Farrenc unterrichtete noch bis 1872 am Konservatorium und starb 1875 in Paris. «Farrencs Schaffen ist», so bringt es die französische Dirigentin Laurence Equilbey auf den Punkt, «von einer Inspiration und Qualität, die im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts ihresgleichen sucht».
Für die Sinfonie Nr. 3 g-Moll op. 36 von Louise Farrenc wählt Holly Hyun Choe, als ehemalige Assistenz-Dirigentin von Paavo Järvi mit dem Orchester und seinen Musikern bestens vertraut, eher bedächtige Tempi, die jeden Moment des Klangs der wunderbar zarten, feinen Streicher und sehnsuchtsvollen, melancholischen Bläsern bis ins Innerste auskostet. Das Tonhalle-Orchester Zürich dankt es einem herrlich leichtem, klarem Klang.
Die beiden Solistinnen, die an diesem Abend in der Tonhalle debütieren, haben sich für ihre Auftritte virtuose Konzerte von Felix Mendelssohn Bartholdy ausgesucht. So bietet sich die Möglichkeit, zwei junge, enorme Talente und deren grundverschiedene Interpretationsansätze kennenzulernen.
Die italienische Pianistin Martina Consonni hat sich Felix Mendelssohn Bartholdys Klavierkonzert Nr. 1 g-Moll op. 25 MWV O 7 ausgesucht. Sie interpretiert das Konzert mit raschen Tempi und bewundernswerter Virtuosität und einer frischen, natürlichen, selbstbewussten in nobler Zurückhaltung kulminierenden Attitüde.
Die russisch-amerikanisch Geigerin Maria Ioudenitch hat Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert e-Moll op. 64 MWV O 14 gewählt. Den Anfang des ersten Satz mit der singende Stimme der Violine über dem fast flüsternden Orchester legt Ioudenitch ausgesprochen zart und sensibel, mit unglaublichen Pianissimi, an und steigert, wie dann im Verlauf des ganzen Stücks, die Eindringlichkeit der Musik bis in quälend schmerzhafte, fast unerträgliche Sphären. Das schlicht grandios aufspielende Tonhalle-Orchester ist ein Partner auf absoluter Augenhöhe.
Ein bewegender Abend, der für lange, lange Zeit in Erinnerung bleiben wird
07.09.2024, Jan Krobot/Zürich