Atemberaubende Bemächtigung: William Moore (Mephisto) und Jan Casier (Faust). Copyright: Gregory Batardon
Ballett Zürich
„FAUST“ 6.5.2018 nm (Uraufführung 28.4.) – Balance zwischen Intellekt und Emotion
Vorbei sind die Zeiten, als es massive Vorbehalte gegen eine vokale oder tänzerische Adaption des berühmtesten aller deutschen Klassiker gegeben hatte. Die Balletthistorie zu diesem Stoff reicht bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Jean Coralli zurück und beinhaltet in der vielseitigen thematischen Herausforderung wie auch Anziehungskraft selbstredend renommierte Tanzschöpfer der jüngeren Vergangenheit.
Der Rumäne Edward Clug, der sich seit seiner Entdeckung als Gast beim Stuttgarter Ballett einen guten Namen als – nomen est omen – kluger Repräsentant zwischen klassischer Tradition und Formen des Modern Dance gemacht hat, reiht sich nun würdig in die Reihe bedeutender choreographischer Größen wie Béjart, Petit und Balanchine ein, die sich indes z.T. auf andere Vorlagen wie z.B. Liszts „Faust-Symphonie“ stützen. Clug hält sich in seiner nahtlosen Szenenfolge in zwei Teilen zu je 50 Minuten ziemlich genau an der Tragödie erster Teil, und verweist nur für einen Moment auf die antike Ebene des zweiten Teils, wenn Helena von Troja in Erscheinung tritt.
Grundlage von Clugs Konzept bilden klare, teils starke bildliche Metaphern, die aber mit Hilfe schnell verwandelbarer Szenen weniger aufwendig als vielmehr konzentriert auf wenige Requisiten und lichttechnische Details sind. Wie von Zauberhand fahren Wände zur Seite und geben kleine Kammern frei, mal Gretchens Stube, oder ein Getreidefeld vor beleuchtetem Wolken-Panorama, in dem Valentin in Ritterrüstung wie ein sagenhaft umwobener Held seine Gegner mit dem Schwert bekämpft, ehe er im Duell mit Faust erliegt. Auch wie von Zauberhand wird Gretchen eine Perlenkette in den Arm geworfen, widerfährt Faust auf einer langen Tafel umkreist von Lemuren-artigen Gestalten in schwarzem Leder seine Verjüngung – aus dem zuerst in dunkel gehaltenen Doktor, der geknickt einen Stapel Bücher in einem Rollstuhl vor sich her schiebt, wird ein ansehnlicher junger Mann in einfachem Weiß.
Zum Bühnenbildkonzept von Marko Japeli gehört auch eine einer Duschkabine ähnelnde Milchglas-Kammer, Fausts dumpfes Studierzimmer markierend, in die Mephisto im wahrsten Sinn des Wortes mit einem aus einem Luftballon geformten Pudel durch die Hundeklappe eindringt. Seine größte Phantasie hat Kostümbildner Leo Kulas für die Walpurgisnacht-Szene entfaltet, wo magische Tiergestalten wie Schweine und Schnecken, aber auch ein Satyr und goldglänzende Götter der Unterwelt den Höllenfürsten und Faust umgarnen. Die Studenten treten in blauer Uniform mit kurzen Hosen in Erscheinung und wenden sich für einen Moment mit ihren Bierflaschen und einem unisono geschmetterten „Prost“ frontal ans Publikum. Am Boden liegende, ihre Flügel wie Nachtfalter aufklappende Wesen stehen anfangs für die bedrückte Stimmung Fausts.
Clug weiß auch mit der Ausstattung und Bekleidung zu spielen, sie für seine dynamische choreographische Sprache zwischen fließendem und rhythmisch bestimmtem Schritt-Material einzusetzen. So wenn er z.B. in der Gartenszene Mephisto und Nachbarin Marthe das Liebespaar in ein gemeinsames zwangsjackenartiges Oberteil nach ihrer Regie agieren lässt oder wenn er den von Gretchen unbemerkt in ihre Kammer gelangten Faust ihre Bewegungen rund um eine Bank synchron doublieren lässt. Gar atemberaubend ist die Szene in der erwähnten „Kabine“, wo sich Mephisto im Handstand auf den von Faust belegten Rollstuhl stützt und sich wie ein Tier mit den Beinen an der Decke bewegt.
Der Leiter des Slowenischen Nationalballetts Maribor führt die Solisten wie auch das Ensemble mit einer Stringenz, die für lückenlose Spannung sorgt. Angetrieben, am Laufen gehalten oder atmosphärisch unterstützt wird er dabei von der Auftragskomposition seines ständigen Co-Mitarbeiters Milko Lazar, die sich mal leise sirrend oder flirrend, dann pochend und vorwärtstreibend im Stil von Minimal Music ausnimmt und ihre Reize aus der seltenen Kombination von jazzig angehauchten Bläsern und dem Einsatz eines Cembalo gewinnt. Die von der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Mikhail Agrest live gespielte Musik begeht dieselbe Gratwanderung zwischen wissenschaftlicher Analyse und gefühlvoller Ansprache, wie sie auch Clugs Choreographie auszeichnet.
Überragender Mephisto: William Moore. Copyright: Gregory Batardon
Die überragende Persönlichkeit der Aufführung ist nicht nur aufgrund der Rolle und ihrer choreographischen Anlage William Moores moderner, von Sarkasmus getriebener Mephisto in roten Sportschuhen, die teuflisch aus der oft dunklen Umgebung heraus leuchten. Wie Moore kraft genereller Bühnenpräsenz, dynamisch mäandernder Körpersprache und bezwingender Mimik Faust manipulierend wie verführend für sich gewinnt, bewirkt immer wieder Gänsehaut zwischen Faszination und Abscheu. Bei ihm genügt ein lauerndes Beobachten, eine knappe Geste wie ein Klaps auf den Hintern Fausts, um mehr auszusagen, als es manch groß angelegte Bewegung vermag. Im Gegensatz dazu ist es die kriecherisch geprägte Fortbewegungs-Manier oder die bereits erwähnte akrobatisch anmutende Szene in der Kabine, mit der der Erste Solist zeigt, wer hier die Welt regiert.
Für kurze Zeit vereint: Michelle Willems (Gretchen) und Jan Casier (Faust). Copyright: Gregory Batardon
Jan Casiers Faust kann es mit ihm an Körpergröße und Flexibilität aufnehmen, weniger an Charisma und Kraft. Dafür bringt der eher schlaksige Belgier viel Sympathie in der Hingezogenheit zu Gretchen und körperliche Geschmeidigkeit ein. In letzterem auch gut übereinstimmend mit der natürlichen und leichtfüßigen Michelle Willems als Gretchen, die ihr Baby im Kinderwagen mordet und sich selbst in einem Wassereimer zu ertränken versucht. Viktorina Kapitonova ist die kapriziös-witzige Nachbarin Marthe Schwerdtlein, Elena Vostrotina verwandelt sich von der hexenhaften Freundin Mephistos für einen Moment in Helena, Meiri Maeda mischt sich als Lichtblick-Engel ins Spiel, Christopher Parker ist der ob seiner Erfolglosigkeit um Fausts Ermunterung passend unauffällige Assistent Wagner.
Der Erste Solist Alexander Jones hat als ritterlicher Valentin zwar einen intensiven Kurzauftritt im Großformat, ist damit aber jenseits einer stattlichen Ausstrahlung leider technisch fast vollkommen unterbedient. Das Corps de ballet ergänzt durch das Junior Ballett hinterlässt in allen Gruppen-Funktionen mit oft synchronen Einsätzen einen geschlossen engagierten Eindruck, was sich in Summe über die gesamte Aufführung sagen lässt – ein Gesamtkunstwerk von bemerkenswerter Konsequenz in allen Komponenten.
Ganz schlicht ist das Ende: Gretchen streckt am Boden sitzend ihre gefalteten Hände nach oben, ihre Strafe erwartend, während Mephisto an einem erhellten Durchgang steht und Faust Eingang gewährt. Wohin? Das mag jeder für sich beantworten.
Lang anhaltender Applaus für diese Nachmittags-Vorstellung zeugte von der nachhaltigen Wirkung des Erlebten!
Udo Klebes