Wuppertal / Opernhaus: PREMIERE: „JULIETTA“ VON BOHUSLAV MARTINU – 3.3.2018
Seit Berthold Schneider die Intendanz des Wuppertaler Opernhauses übernommen hat, wird nicht mit innovativen Projekten gespart. Mit ungewöhnlichen Programmen und durchaus streitbaren Regisseuren wird die Opernszene aufgemischt. Ein anbieterndes Programm, wie es momentan an so manchem deutschen Theater üblich ist, gibt es hier nicht.
Ein treffender Beweis dafür ist die neueste Premiere von „Julietta“, einer surrealistischen Oper, die Bohuslav Martinů 1937 mit einem eigenen Libretto nach dem Drama „Juliette, ou la Clé des songes“ von Georges Neveux in französischer Sprache schrieb und die 1938 am Prager Nationaltheater in Tschechisch uraufgeführt wurde, nachdem eine Aufführung an einem französischen Theater nicht zustande kam. In Wuppertal wurde deutsch gesungen, was dem Publikum sehr entgegen kam, zumal die Sänger meist sehr gut artikulierten und die Textverständlichkeit einmal nicht zu wünschen übrig ließ wie an so manch anderem Opernhaus.
Dieses nicht leicht zu verstehende und zu inszenierende Werk, mit seinem, aus heutiger Sicht nicht unproblematischen, Libretto hat Inga Levant spannend arrangiert und in einen ästhetischen Rahmen, der von Jan Freese und Petra Korink in analoger Weise und angenehmer Farbigkeit auf der Bühne umgesetzt wurde, verpackt und lässt es revueartig vorüberziehen. Die erfahrene Regisseurin findet eine Erzählweise mit entsprechendem Rhythmus und Zeitlupenwirkung, die die träumerische Handlung deutlich macht und dennoch eine gewisse Spannung includiert, so dass der Abend auch ohne „Action“ nie langatmig wirkt.
Diese Deutung bewegt sich in der gesamten Bandbreite an einer Grenze zwischen Traum und Realität, Fantasie und Illusion. Alles Reale wird fiktiv, alle Fiktionen erscheinen real. Die Seelenzustände verwirrter Menschen, d. h. aller Bewohner einer fiktiven südfranzösischen Kleinstadt am Meer zu unbestimmter Zeit leiden unter totalem Gedächtnisverlust und versuchen, durch die Vereinnahmung fremder Erinnerungen an vergangene Zeiten anzuknüpfen, um etwas von ihrer Identität zurückzugewinnen und die Vergangenheit wenigstens zu berühren, um so den unwiederbringlichen Augenblick der Zeit festzuhalten.
Da kommt ihnen der gerade angekommene Reisende, ein Buchhändler namens Michel, der seine Vergangenheit in realer Form, die junge, schöne Julietta, sucht, die er einst in dieser Stadt fand, gerade recht. Für ihn ist die Gesellschaft ohne Gedächtnis, die kein Zeitgefühl mehr besitzt, wie ein (Alb-)Traum mit immer neuen Überraschungen, wie man es von Franz Kafkas Romanfragmenten kennt. Dennoch findet er die Gesuchte, die immer wieder entschwindet und wie ein Irrlicht mit ihrer Stimme auftaucht. Bis sie ihn endgültig verlässt. Schließlich verliert er sich gleich den zahlreichen anderen Personen in eine surreale Traumwelt, in der Realität und Illusion, Raum und Ort, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen und nicht mehr zu trennen sind.
Große psychologische Fragen versucht die Regisseurin dennoch nicht aufzuwerfen, um die Geschichte nicht noch mehr zu verkomplizieren. Sie deutet alles als (k)einen (Alb-)Traum und lässt eine endgültige Deutung bis zum Schluss offen, so dass am Ende das Schlimmste passiert, was passieren kann, es beginnt alles wieder von vorn. Man ist im Kreis gegangen.
Die Hauptfigur der Oper, dieser Michel, ein offenbar gutsituierter, fremdländischer Reisender mit Gehrock und Melone, eine fatalistische Gestalt mit kaftaesken Zügen, der der Situation, in die er geraten ist, fassungslos gegenübersteht, wurde von dem südkoreanischen Tenor und Ensemblemitglied Sangmin Jeon verkörpert. Mit nur wenigen Ausnahmen ist er ständig auf der Bühne zugegen und überzeugte mit erstaunlicher stimmlicher und darstellerischer Präsenz, wenngleich man ihm für die Artikulation der deutschen Sprache mitunter noch etwas mehr Mut gewünscht hätte.
Michel verliebt sich in die steinerne Wassernymphe Julietta und schläft laut Regie an deren Brunnenrand ein, woraus sich die komplette Traumhandlung ergibt. Ralitsa Ralinova verlieh der Nymphe in überdimensionaler Lockenmähne und eleganten Kleidern und gesuchten Geliebten ihre schöne Stimme und elegante Erscheinung. Mit einschmeichelndem, verführerisch lockendem Gesang setzte sie schöne Akzente, mit denen die Handlung fokussiert wurde. Schließlich erscheint sie noch als Charakterdarstellerin der Alten Dame und eines der Drei Herren (!).
In all den zahlreichen kleineren, sehr gegensätzlichen Rollen wie Mann mit Helm, Altvater Jugend, Verkäufer von Erinnerungen (selbst daraus will einer gleich wieder ein Geschäft machen), Blinder Bettler, Lokomotivführer und Waldhüter verlieh Simon Stricker Charakter, Würde und das nötige Profil – eine besondere Leistung in dieser Vielseitigkeit. Ebenfalls auf gutem Niveau stellten Catriona Morison den kleinen Araber, die Alte Frau, den Handleser, den Jungen Matrosen und Hotelboy und Sebastian Campione den Mann am Fenster, den Alten Mann, den Alten Matrosen und den Sträfling dar sowie weitere Darsteller kleinere Rollen, die alle in ihrer Vielfalt dazugehören, und Christopher Bruckman war ein guter Akkordeonspieler auf der Bühne.
Unter der Bühne, im Orchestergraben, spielte ein ganz besonderer „Star des Abends“, das von seinem Publikum sehr geschätzte Wuppertaler Sinfonieorchester, das unter der Leitung seines ersten Kapellmeisters Johannes Pell zuverlässig und makellos spielte. Pell hatte dieses Werk sehr gründlich einstudiert und führte das Orchester voller Leidenschaft und mit sicherer Hand durch den Abend, so dass der instrumentale Teil das klangvolle Fundament der Aufführung bildete.
Bekanntermaßen ist Martinůs Partitur eine Reminiszenz an alle großen Komponisten seiner Zeit, Wagner („Tristan und Isolde“), Janácek („Das schlaues Füchlein“), Dvorák („Rusalka“), Debussy, Poulenc, Zemlimsky, Strawinsky und und und … Seine Musik erweitert zwar die Harmonik, bleibt aber tonal, reizvoll und eigenständig. Er schuf eine packende, immer wieder flirrend und irisierend klingende Musik, die von Johannes Pell und dem Orchester mit entsprechendem Können umgesetzt wurde.
Dieser Abend wurde ein Erfolg für das Wuppertaler Haus, dem man nur wünschen kann, dass auch die weiteren Vorstellungen dieser lyrischen Oper in drei Akten von einem der bedeutendsten tschechischen Komponisten neben Dvorák, Smetana und Janácek in dieser ansprechenden Inszenierung eine entsprechende Anziehungskraft und das nötige Verständnis nicht nur des aufmerksamen Premieren-Publikums finden mögen.
Ingrid Gerk