WÜRZBURG: UNVERHOFFTES WIEDERSEHEN von Alois Bröder (Uraufführung)
am 24.6./9.7. (Werner Häußner)
Copyright: Theater Würzburg
Am Anfang steht ein Rührstück. Eine jener einst beliebten Kalendergeschichten, deren hoch geschätzter Meister Johann Peter Hebel gewesen ist. Eine merk-würdige Begebenheit aus dem schwedischen Falun, wo man im Kupferbergwerk die perfekt konservierte Leiche eines verunglückten Bergmanns gefunden hat. Eine alte Frau identifizierte ihn als ihren vor Jahrzehnten verschwundenen Verlobten.
Liebe, Tod, Zeit und der geheimnisvolle Ort unter der Erde inspirierten Literaten: E.T.A. Hoffmann bettete in die „Serapionsbrüder“ die Erzählung von den „Bergwerken zu Falun“ ein, in der er unter der Erde eine unheimlich-faszinierende Anderswelt erstehen lässt. Johann Peter Hebel schuf 1811, acht Jahre vor Hoffmann, seine kurze, prägnant konstruierte, symbolisch aufgeladene Geschichte „Unverhofftes Wiedersehen“, die sich auf den Abschied der beiden Verlobten und ihre erneute Begegnung nach fünfzig Jahren konzentriert. Und der Komponist Alois Bröder wählte 2014/15 die Erzählung Hebels als Grundlage seiner zweiten Oper „Unverhofftes Wiedersehen, die an einem symbolträchtigen Tag, am Johannistag, 24. Juni 2017, am Mainfrankentheater Würzburg uraufgeführt wurde.
Symbolträchtig deshalb, weil das Johannisfest, der längste Tag des Jahres, bei Hebel auch die Zeit ist, in der die Leiche des jungen Bergmanns geborgen wird. Sein tödlicher Unfall dagegen ereignet sich um das Fest der heiligen Lucia, also nicht weit weg von der Wintersonnwende, der längsten Nacht. Bröder, der den Text Hebels beinahe wortgetreu in 75 Minuten Musik fasst, verstärkt die symbolischen Konnotationen noch durch einen Prolog („Die Erde“) und einen Epilog („Der Komet“): eine Reflexion über Stillstand und Bewegung, und ein Kapitel über den Kometen als Unglücksboten – in der Tradition, die von Johann Nepomuk Nestroy (komisch-melancholisch: „Lumpazivagabundus“) bis Lars von Trier (depressiv-erlösungssehnend: „Melancholia“) reicht.
Anders als Hebel gibt Bröder seinen Protagonisten Namen, Mathias und Anna, und verstärkt damit den Kontrast zwischen der individuellen Tragödie zweier Menschen und dem gleichmütigen Gang des Weltgeschehens. Sein Werk, eigentlich fünfteilig wie eine „grand opéra“, nimmt in den drei zentralen Szenen die Gliederung Hebels auf. Dort wo der Autor die großen Ereignisse der Weltgeschichte Revue passieren lässt, im Zentrum des Textes, baut Bröder ganz auf die Musik: Fast zwanzig Minuten lang schweigen die Stimmen, nur der ausgezeichnet intonierende Chor zitiert das dritte Kapitel des alttestamentlichen Buches Kohelet, „Ein jegliches hat seine Zeit …“.
Regisseur Markus Weckesser lässt in Würzburg – in Anlehnung an die Regieanweisungen in Bröders Libretto – in Videoprojektionen von Nikolai Kröhnert das Verstreichen der Zeit sichtbar ablaufen. Er wählt dafür zwei Ebenen: Eingeblendete Schriftbänder zitieren die weltgeschichtlichen Ereignisse, die Hebel in seinem Text aufzählt – vom Erdbeben von Lissabon bis zur Eroberung Preußens durch Napoleon. In Bildern aber zeigt er prägende Ereignisse der letzten Jahrzehnte: Rotkreuzschwestern im Krieg, Mondlandung, Kniefall Willy Brandts in Warschau. So wird der bloße Historismus vermieden, der sich sonst in den sorgsam gestalteten Kostümen einfacher Leute zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Götz Lanzelot Fischer nahegelegt hätte. Die alte Geschichte – sie ist auch eine unserer Zeit.
In der ruhigen, bewusst stilisierten Führung der Personen schafft es Weckesser ebenso, die Polarität einer realistischen Schilderung und eines exemplarischen Geschehens aufrechtzuerhalten. Der Pfarrer, ein konkreter Mensch (Taiyu Uchiyama), steht für Gottvertrauen, Glaube und Kirche, wie sie im alltäglichen Leben der Menschen präsent sind. Er reicht der fassungslosen Anna nach dem Unglück eine Bibel. Kein billiger Trost, sondern Verweis auf das einzig Tröstende: Ohne einen Gott, der die Überwindung des Todes im ewigen Leben garantiert, ist jede Hoffnung vergebens. Darauf zielt auch der Epilog, wenn der Chor angesichts einer möglichen kosmischen Katastrophe drei Mal „…in Gottes Hand“ singt und damit die Oper schließt.
Der Tod dagegen, virtuos gespielt und sattelfest gesungen von Daniel Fiolka, ist in seiner flammend roten Farbe nicht von dieser Welt. Er holt die Menschen durch seinen bloßen Blick aus ihrem Leben hinaus in das unbestimmte Schwarz eines undurchschaubaren Raumes. Er greift unsichtbar in den Lauf des Daseins ein, zeichnet mit Kreide die Trennlinien zwischen den Liebenden auf den Boden, ruft Matthias schon vor seinem Unglück, trägt am Ende Anna wiegend hinaus.
Dass die Liebe stark sei wie der Tod, eine der zentralen Botschaften des Stücks, wird vom Frauenchor als Kommentar gesungen, während Anna den wiedergefundenen Bräutigam in ihrer Stube aufbahrt. Die andere ist die ambivalente Rolle der Zeit, wie wir sie in vielen romantischen Stoffen thematisiert finden. Der Tote bleibt ewig jung, die Lebende altert. Das Verstreichen der Zeit ist die Voraussetzung des Lebens. Die alte Frau hat gelebt, der junge Mann, der die Jahre unverändert übersteht, ist in seiner Jugend erstarrt und tot. Weckesser akzentuiert dieses Paradox des irdischen Daseins mit einer bemerkenswerten Szene im zentralen zweiten Teil: Während um sie herum in Schrift und Bild die Weltgeschichte und die Episoden ihres eigenen Lebens verflimmern, wird Anna auf offener Spielfläche von Natalja Krylova vor einem Spiegel vom blühenden Mädchen in eine verwelkte alte Frau verwandelt. Ein starkes Bild, das die Frage von Identität und Wandel eindrucksvoll in den Raum stellt.
In Würzburg wird die Bühne als Spielraum genutzt: Das Publikum sitzt auf drei Seiten der Hinterbühne, das Portal zum Zuschauerraum ist geschlossen, davor sitzt das Orchester. Die Nähe zum Geschehen schafft eine eigene Form von Betroffenheit und Intimität. Für die Darsteller eine Herausforderung, die Silke Evers (Anna) bravourös meistert. Ihr Mienenspiel, ihre genau kalkulierte Körperhaltung lassen die inneren Prozesse und Wandlungen erkennen: Wir sehen eine lebensvolle junge Frau, die zuerst die Nachricht vom Unglück ihres Gefährten gar nicht erfassen kann, aus der aber, je weiter das Schreckliche in ihr Inneres dringt, das strahlende Licht des Antlitzes schwindet. Und wir erleben die faltige Alte, tief gezeichnet von fünfzig Jahren Trauer, aus deren zerfurchtem Gesicht die steinerne Starre weicht, wenn sie ihren toten Freund in die Arme nimmt, bei der durch die fahle Haut wieder das Leuchten der Jugend dringt.
Eine große Leistung der Sängerin, die stimmlich durch differenziert gebildete, oft vibratolos in den Raum projizierte Töne den Charakter ihrer Rolle ausleuchtet. Überzeugend auch Roberto Ortiz mit einem stets leicht kehlig getönten Tenor, aber mit einwandfreier Artikulation und Klängen des Entsetzens, der Sehnsucht, der zärtlichen Zuneigung. Georg Zeies findet als Sprecher den rechten Weg zwischen neutralem Erzählton und schilderndem Pathos.
Alois Bröder hat bereits in seiner ersten Oper „Die Frauen der Toten“ (Erfurt 2013) bewiesen, wie er mit seinen musikalischen Mitteln die Uneindeutigkeit der Zeit, die existenzielle Verunsicherung der Menschen, den Abgrund hinter einer bloß positivistischen Weltsicht gestalten kann. Der Darmstädter Komponist, Jahrgang 1961, der unter anderem bei Manfred Trojahn in Düsseldorf und bei Hans Ulrich Humpert in Köln studiert hat, bestätigt auch mit „Unverhofftes Wiedersehen“ seine Sensibilität für Stoffe, die zwischen Tatsächlichkeit und Fiktion schwebend in seelische und geistige Regionen vorstoßen, in denen das Wirken übermenschlicher Kräfte eine „Realität“ in Frage stellt, die keinen festen Boden mehr hat. Die Musik ist es, die Johann Peter Hebels Geschichte über das Rührstück hinaus auf eine symbolisch-exemplarische Ebene erhebt. Freilich kann Bröder dem epischen Grundzug des Stoffes nicht entkommen, aber das Mittel einer kleingliedrigen, vielfarbigen Musik lässt den dramatischen Steigerungsbogen nicht vermissen.
Knapp zwei Dutzend Musiker des Philharmonischen Orchesters Würzburg fächern mit einem vielfältigen – meist solistisch besetzen – Instrumentarium ein breites Spektrum klanglicher Farbmischungen auf. Bröder lässt mit ruhigen Klangflächen beginnen, die in sich aber gebrochen changieren, setzt die Harfe als „das“ Instrument des Romantischen ein, bricht den atmosphärischen Klang durch Bläsereinwürfe auf. Die Schichtungen der Akkorde wirken äußerlich ruhig, sind aber nach innen immer wieder in ihrer Harmonie gestört. So schafft Bröder musikalisch auszudrücken, dass dieses scheinbar ruhige, stetige Leben der Menschen, die sich auf die Hochzeit freuen, bereits haltlos ins Schwimmen gerät. Der Tod ist präsent, noch bevor sein Hauch zu spüren ist.
Die Musik scheut sich nicht vor Illustrativem – sie ist echte „Theater“-Musik, verrät sich aber nicht an den Handlungs-Vordergrund, sondern leuchtet aus. Besonders in dem fast ausschließlich instrumentalen Mittelteil wird hörbar, wie Bröder musikalisch die Brücke schlägt zwischen den beiden handlungsbestimmten Flanken: Was für eine Oper herkömmlichen Stils zum dramaturgischen Todesstoß werden kann, ist in „Unverhofftes Wiedersehen“ eine stimmige und sinnige Weitererzählung ohne Worte, aber mit sprechender, substanzvoller Musik. Beim Würzburger GMD Enrico Calesso ist diese fein gesponnene, bis auf wenige Ausbrüche filigran gehaltene Partitur in besten Händen: Mehr noch als in der Premiere hält er die Klänge flexibel, den Duktus des Metrums geschmeidig. Die Musiker sind mit punktgenauer Konzentration bei der Sache, vom Schlagzeug über die tiefen Bläser bis zum aufsteigenden Violinsolo im Schlussgesang Annas.
Alois Bröders „Unverhofftes Wiedersehen“ ist noch ein Auftrag des Mainfrankentheaters aus der Intendanz Hermann Schneiders gewesen, der mit Beginn der Spielzeit 2016/17 das Landestheater Linz als Intendant übernommen hat. So kommt Bröders Oper zur unverhofften Zweitaufführung in Linz und der Opernkomponist zu seinem Österreich-Debüt: Am 25. Februar 2018 ist im BlackBox Musiktheater die Premiere. Die Vorstellungen in Würzburg waren meist ausverkauft.
Werner Häußner