WÜRZBURG / St. Andreaskirche: DER KAUKASISCHE KREIDEKREIS von BERTOLT BRECHT
16.01. 2022 (Werner Häußner)
Brecht auf die Bühne – das ist heute leichter gesagt als getan. Alles, was einmal neu und aufregend war, das epische Theater, die Verfremdung, die Neubestimmung des Verhältnisses von Bühne und Zuschauer, das Lehrstückhafte, alles das ist historisch geworden, überholt von einer unbestimmten Postmoderne mit ihrer Performancewut, ihren medialen Distanzierungen, ihrer Erzählverweigerung und ihrem Pendeln zwischen moralischem Relativismus und Rigorismus. Regisseurin Bea Martinek hat Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ in Würzburg von fast allen der „typischen“ Brecht-Merkmale entbunden und sich auf die erzählte Parabel konzentriert. Kein „Spiel im Spiel“ mehr, keine Debatte grusinischer Obstbauern und Ziegenhalter um den rechten Weg.
Brecht in einer katholischen Kirche – das wäre bei der deutschen Erstaufführung 1954 und auch beim Bruch des Brecht-Boykotts in Wien 1963 nicht denkbar gewesen. Das Mainfranken Theater Würzburg bekommt nun Gastrecht in der Pfarrkirche Sankt Andreas, nachdem das neu erbaute „Kleine“ Haus im Zuge der Erweiterung und Generalsanierung des Nachkriegstheaterbaus von 1966 erst im Lauf dieser Spielzeit eröffnet werden soll. Aber selbst strenggläubigen Katholiken sollte das kein Stein des Anstoßes mehr sein: Es geht nicht um Marxismus im geistlichen Raum, sondern um eine zutiefst humane Parabel, über der das zentrale Kreuz der Kirche mit tiefem Sinn leuchtet. Der Altar selbst ist verdeckt. Stephanie Dorn hat ihn mit einer Konstruktion aus zwei Schrägen und einer zentralen Plattform überbaut, die den kargen Stil der Betonkirche von Lothar Schlör aus dem Jahr 1968 aufnimmt.
Martineks Inszenierung rückt das Thema der Mutterschaft in den Mittelpunkt und spricht damit ein grundsätzliches Problem an, das über Brechts Intentionen hinaus- und bis in die christliche Glaubensreflexion hineinreicht. Es geht um Sein und Existenz, konkret um die Frage, was eine Mutter ausmacht. Brecht wendet sich gegen den Mythos der „Blutsbande“: Das Mutter-Sein bestimmt sich nicht dadurch, dass eine Frau ein Kind entbunden hat. Sondern es aktualisiert sich in der konkreten Existenz als Mutter, in der Sorge um das Kind. Brecht hat um seiner Parabel willen den Gegensatz verschärft. Und die Inszenierung macht deutlich, dass keine „sozialistische“ Produktivitäts-Moral gemeint ist, sondern eine zutiefst menschliche Haltung. „Der kaukasische Kreidekreis“ ist damit aus seiner Zeitgebundenheit gelöst und wird zu einem jener Stücke, die nach den Worten Brechts „nahezu immer gegeben werden können, weil sie im Thema sehr allgemein sind“.
Die eindreiviertel Stunden ohne Pause sind erfüllt von ruhigen, unaufgeregten Interaktionen, wie man sie sich öfter wünschen würde. Hänger in der Spannung gibt es dennoch nicht, weil sich das Spiel immer wieder gekonnt verdichtet. Hervorzuheben ist die kluge Ökonomie der Sprechdynamik: Nur die jungen Männer scheinen technisch nicht in der Lage zu sein, sich auf den halligen Kirchenraum einzustellen und drücken zu oft auf Tempo und Lautstärke. Jojo Rösler gibt der Magd Grusche Vachnadze eine wunderbar sanft gefasste Menschlichkeit, die sich durchaus stark und selbstbewusst äußern kann, wenn es um das Kind des hingerichteten Gouverneurs geht: Sie hat es an sich genommen, als es die leibliche Mutter in Sorge um ihre gute Garderobe bei der Flucht vergessen hat. Ihre Gegenspielerin zeichnet Sina Dresp ohne die übertriebene Hochnäsigkeit, die gern ins Karikierende abgleitet. Dresp macht aus der Gouverneursgattin einen erkalteten Menschen, der seine Vorstellungen, wie die Welt zu sein hat, nicht verändern kann.
Auch die Szenen zwischen Grusche und ihrem Verlobten, dem Soldaten Simon (Anselm Müllerschön) sind in ihrer Emotionalität wohldosiert und sogar mit einem Hauch liebevoller Geziertheit ausgespielt. Isabella Szendzielorz und Thomas Klenk – wie fast alle anderen auch in mehreren Rollen – werfen als Bauernpaar ein paar Augenblicke schnoddrigen Humors in die Runde. Georg Zeies findet als Erzähler den richtigen Ton, wenn er den Azdak von Matthias Fuchs einführt, dessen überraschende Ernennung zum Richter in einer fast shakespearischen Groteske vorbereitet wird (u. a. mit Martin Liema und Bastian Beyer als Panzerreiter). Fuchs spielt die korrupte Verkommenheit und die miese Schläue des ehemaligen Dorfschreibers in wunderbarer Selbstverständlichkeit aus, aber durch alle burlesken und auch willkürhaft-gefährlichen Züge hindurch scheint die Würde dieser Figur: Durch alle Schicksalswendungen hindurch hat er sich den unbestechlichen Blick für das menschlich Wahre bewahrt, der ihn weise und „beinahe gerecht“ urteilen lässt.
Werner Häußner