Foto: Claudia Lother
WÜRZBURG / MOZARTFEST: Eröffnungskonzert im Kaisersaal der Residenz mit dem FREIBURGER BAROCKORCHESTER und JULIAN PRÉGARDIEN
24.5.2019 (Werner Häußner)
Allmählich senkt sich der Abend über den prachtvollen Bau der Würzburger Residenz. Draußen wandelt sich das milchige Grau des bedeckten Himmels ins Düstere, drinnen leuchten Marmor und Gold im warmen Schein gedämpfter Leuchter. Die Atmosphäre ist festlich. Es ist wieder Mozart-Zeit in Würzburg. Vier Wochen stehen im Zeichen musikalischen Genusses – noch mehr, intensiven Nachdenkens über Musik und ihre geistigen Voraussetzungen.
„Mozart, ein Romantiker?“, fragt das Würzburger Mozartfest in diesem Jahr, und stellt damit nicht die Frage nach der zutreffenden Epochen-Zuordnung. Sondern versucht, die Rolle des Komponisten im Spiel der geistigen Kräfte näher einzugrenzen. Mozart, von Romantikern wie E.T.A. Hoffmann als eine Schlüsselfigur ihrer Musikanschauung bewertet, könnte durchaus identifiziert werden mit einem der „erhabenen Geister, welche der Himmel zum Dienste der Kunst auf die Welt gesetzt hat“. Und er hat ähnlich wie der in Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ geschilderte Tonkünstler Joseph Berglinger den „Kampf zwischen seinem ätherischen Enthusiasmus und dem niedrigen Elend dieser Erde“ geführt. Die Vorstellung des „apollinischen“, leicht und begnadet schaffenden Genius Mozart hat solche romantischen Wurzeln.
Den marmornen Apoll im Kaisersaal der Residenz in Würzburg taucht das Abendlicht in verhaltenes Gelb-Orange. Es mischt sich in das Dunkel der Nacht, die in den hohen Fenstern ihren grauen Ton verliert und sich in sattes Blau – die bevorzugte Farbe der Romantik – kleidet. Auf der Westseite der Residenz fingern die letzten Strahlen der Sonne in den Weißen Saal. Der goldrote Ball hat sich noch einmal durch die Wolkendecke gekämpft und überzieht den weißen Stuck Antonio Bossis mit rosigem Schein. Von der Nachtseite her jedoch klingen die tragisch grundierten Klänge von Wolfgang Amadés „kleiner“ g-Moll-Sinfonie KV 183, intoniert vom Freiburger Barockorchester.
Solche Bilder liegen zwar nicht weit weg von der Trivialromantik der Candlelight-Dinner und der Kulinarik-Nächte mit Musik als angenehmer, leicht verdaulicher Zugabe. Situationen also, in denen etwa Hoffmanns Kapellmeister Kreisler die Flucht zu den Sonaten Arcangelo Corellis angetreten hätte. Aber wenn wie beim Herzensergießungs-Tonkünstler Berglinger die Musik die „Nerven mit leisen Schauern“ durchdringt und „mannigfache Bilder … aufsteigen“ lässt, ist die Nähe zu den romantischen Ahnungen des Unsagbaren, des Unendlichen und des „Geisterreichs“ nicht so weit weg.
Schon der Gründer des Mozartfestes, Hermann Zilcher, war vor fast 100 Jahren fasziniert von der „innigen Vermählung zwischen Ton, Architektur und Farbe“, die ihm die Residenz zur idealen Aufführungsstätte für die Musik Mozarts erscheinen ließ. Es sind also die Bilder, unmittelbar aufsteigend aus der durch Musik „erhitzten“ Seele, die den Menschen zum Romantiker machen. Berglinger, um noch einmal auf den grundlegenden Text Wackenroders einzugehen, war auf jeden Fall nicht dann glücklich, wenn er eine technisch besonders vollendete Musik geschaffen hatte. Sondern wenn es ihm gelang, auf die Herzen der Zuhörer zu wirken.
Wenn Mozart Ähnliches im Sinn hatte, ist das noch kein Indiz für einen „Romantiker“. Sicher lag ihm das Denken in Wackenroders oder Hoffmanns Kategorien fern: Romantik ist bei ihm kein Quell des Schaffens – der ja zum Beispiel in E.T.A. Hoffmanns Musik zu erstaunlich „klassischen“ Ergebnisse führt. Ulrich Konrad, einer der führenden Mozart-Experten, bemerkt im Programmbuch, Romantik verwirkliche sich „primär im Geistigen, im Denken, in der Theorie, in der Weltanschauung“. Sie sei also weniger eine Kunstpraxis als vielmehr eine Form utopischen Denkens über Poesie und Kunst.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Hoffmanns Kapellmeister Kreisler in Bach und Corelli Musiker erkennt, die sich in sein romantisches Kunst-Fühlen problemlos integrieren lassen. Aber bei Mozart gibt es zumindest eine – viel zitierte – Briefstelle, die von jedem der späteren Romantiker stammen könnte. Im Juli 1791 schreibt er an seine Frau Constanze: „Ich kann dir meine Empfindung nicht erklären, es ist eine gewisse Leere – die mir halt wehe thut, ein gewisses Sehnen, welches nie befriediget wird, folglich nie aufhört – immer fortdauert, ja von Tag zu Tag wächst.“ Eine geradezu augustinische Äußerung, die sich vielleicht mit dem Hinweis auf depressive Verstimmungen wegrationalisieren lässt, aber ebenso gelesen werden kann für die unnennbare Sehnsucht, das jede abgezirkelte Weltordnung sprengende Unsagbare, das Suchen nach dem ganz Anderen, das die Romantik später auszeichnen wird.
Mit diesem Satz wird es sicher das MozartLabor vom 8. bis 11. Juni im Würzburger Exerzitienhaus Himmelspforten zu tun bekommen, das sich mit Mozart, dem „Romantiker“ beschäftigen und dabei musikalische und geistesgeschichtliche Horizonte abstecken wird. Der „romantische“ Mozart wurde in seinen späten Symphonien, vornehmlich aber in „Don Giovanni“ entdeckt, einem Werk, das seine Brisanz nicht zuletzt dem Eingreifen des Übersinnlichen verdankt und das nach Mozarts Tod zum Schlüsselwerk der Romantik auf der Opernbühne avancierte. Es wird am Samstag, 8. Juni im Kaisersaal mit der Lautten Compagney unter Wolfgang Katschner konzertant aufgeführt.
Die nachtschattene Klangfarbe, die dräuenden Tremoli, die unheimlichen Akkorde, die sich in der frühen g-Moll-Sinfonie ankündigen und die Mozart im „Don Giovanni“ als musikalische Ausdrucksmittel perfektioniert, finden sich auch bei anderen Zeitgenossen, bei Joseph Martin Kraus etwa, der als schwedischer Hofkapellmeister im fernen Stockholm seine musikalische Sprache des „Sturm und Drang“ entwickelte, oder in Antonio Salieris Aufsehen erregender Oper „Les Danaïdes“. Und später in der g-Moll-Sinfonie des „Revolutionskomponisten“ Étienne-Nicolas Méhul von 1808.
Das Freiburger Barockorchester mit der Geigerin Lorenza Borrani am ersten Pult zeigt mit dieser selten aufgeführten Kostbarkeit, wie Méhul Mozarts Ausdrucksmittel radikalisiert: Den ersten Satz nehmen die Musiker nicht in gemessener Eleganz, sondern in einem Furor, der die ganze erregte Energie der Zeit einfängt: heftige Akzente, insistierende Wiederholungen und gezackte Aufwärtsbewegungen, die sich nicht zur Melodie entwickeln wollen. Die Freiburger spielen mit dem nötigen Feuer, ohne die Akustik des Saales zu überreizen und ohne die diffizile harmonische Arbeit Méhuls mit bloßer Verve zu überbügeln.
Im Andante lässt Méhul eine galante Melodie immer düsterer erscheinen und schließt mit einem gehaltenen Hornstoß im Fortissimo irritierend ab. Originell auch der dritte Pizzicato-Satz, während im „Allegro agitato“ des vierten Satzes der Unterschied zu Mozart deutlich wird: Méhul setzt weniger auf aufwändige Verarbeitung, sondern ganz im Sinne einer aufklärerischen Ästhetik auf fassliche, durch Wiederholung einsichtig gemachte Struktur. Aus dem gleichen Geist nähern sich die Musiker der Mozart-Sinfonie (KV 183): Deren Allegro con brio ist eben keine festlich-höfische Unterhaltungsmusik mehr, sondern – und jetzt kommen schon „romantische“ Kriterien ins Spiel – eine persönliche Bekenntnismusik. Nicht im Sinne eines biografischen Zeugnisses für eine subjektive Befindlichkeit, wie früher gerne gelesen. Mozart entfernt sich kühn von Konventionen der Gattung, um musikalisch zu sagen, was ihn in Herz und Geist bewegt.
Die Freiburger lassen das, wenn auch mit einigen Abstrichen, mit passioniertem Spiel hören. Kraftvolle Akzente der Bläser, manchmal fast rotziger Rhythmus, aber auch eine Oboe, die Mühe hat, den kantablen Kontrast zu finden. Der zweite Satz ist in wunderbarem, wirklichen „Andante“ aufgefasst, nicht eilend und nicht trödelnd, mit warmen, diskreten, aber nicht immer sicheren Bläsern in reizvollem Wechselspiel mit den Streichern.
Den Abend eröffnet – nach diversen Reden – der Tenor Julian Prégardien mit der Konzertarie „Misero! O sogno“ (KV 431) mit einem Text von unbekannter Hand, der jeden romantischen Opernkomponisten inspiriert hätte: Die „aura“, die auf ihren Flügeln Seufzer zur Angebeteten tragen möge, erinnert unmittelbar an Salvatore Cammaranos „sospiri ardenti“, die in „Lucia di Lammermoor“ der Lufthauch zwischen Lucia und Edgardo übers Meer tragen möge. Prégardien und das Orchester sind sich im Tempo des Rezitativs erheblich uneinig; zudem kann der Tenor technisch nicht überzeugen, wenn er eine messa di voce in einen engen Schlusston führt und in dramatischen Momenten sich nicht auf Sitz und Stütze verlassen kann.
Auch in Haydns bemerkenswerter Szene aus seiner Oper „L’anima del filosofo“ („Perduto un’altra volta – Mi sento languire) ist nach einem fabelhaft entspannt gestaltetem Recitativo der Aufstieg in expressiv-dramatische Sphären nicht gefahrlos, sondern mit stimmlicher „crudeltá“ verbunden: Beobachtungen, die immer wieder daran zweifeln lassen, ob man jungen Sängern einen Gefallen tut, wenn man sie unkritisch hochjubelt. Überzeugend ist der Tenor dann aber mit seinem leuchtenden Timbre, das er für eine andere Sehnsuchtsarie Mozarts über das Bildnis einer bezaubernd Schönen einsetzt: Tamino spricht in der „Zauberflöte“ auch von etwas, das er „gar nicht nennen“ könne. Prégardien gewichtet und färbt die Worte – und wenn er davon träumt, die Dame auf dem Porträt könnte ewig „mein“ sein, kleidet er diesen Wunsch nicht in besitzergreifendes Strahlen, sondern spricht ihn zärtlich verinnerlicht aus. – Bis 23. Juni verfolgt das Würzburger Mozartfest in noch knapp 60 Veranstaltungen den Spuren Mozarts in die Romantik hinein, die Informationen sind auf www.mozartfest.de abrufbar.