Roberto Ortiz (Rodolfo), Igor Tsarkov (Colline), Daniel Fiolka (Marcello), Taiyu Uchiyama (Schaunard) © Nik Schölzel
WÜRZBURG: LA BOHÈME – Premiere
13.10. 2018 (Werner Häußner)
Quälende Armut: Auf der Bühne geht es damit wie mit den Favelas in Rio de Janeiro. Vom Auto aus betrachtet, haben die putzigen farbigen Häuschen am Hang immer etwas Malerisches. Die radikale Bitterkeit, das seelenzerstörende Elend lässt sich nur vermitteln, wenn man die Bilder bricht. Naturalismus taugt dazu selten.
So kommt es, dass Inszenierungen von Giacomo Puccinis „La Bohème“ so gerne vom Schleier einer sentimentalen Romantik überzogen werden, egal, ob eine Mansarde in Montmartre nachgebaut ist oder der radikale Bruch mit dem Gegenständlichen gewagt wird. In Würzburg hat sich Bühnenbildnerin Émilie Delanne mit wirkungsvollen Bauten für die Ästhetik konkreter Räume entschieden, die nur im zweiten Bild – dem Café Momus – notgedrungen dürftig ausgefallen sind. Doch das besetzte Haus, das bald irgendeinem Hipsterquartier weichen wird, das Altenheim mit der Anmutung der Pariser Banlieues bleiben trotz der Liebe zum Detail und dem Geschmack für die richtige Farbe Orte des Sentiments.
Puccini hat es genau so seiner Oper eingeschrieben und ihr damit – anders als der viel lakonischere Ruggiero Leoncavallo mit seiner „Bohème“ – den Dauerplatz im Repertoire gesichert. Es hat ja vielleicht auch Sinn: Was hilft den armen Studenten und Gelegenheitskünstlern aus der Misere, wenn nicht ein bisschen Lust am Luxus und Sehnsucht nach Sentiment? Die bittere Vergeblichkeit solcher Momente des Lebens, geschärft und fokussiert in vier Bildern, könnte sich mit einer passenden, detailgenau beobachtenden Regie durchaus vermitteln. Aber Martina Veh, die Regisseurin der neuen Würzburger „La Bohème“, hat Größeres im Sinn: Sie schafft aus den vier Teilen ein Zeitpanorama, das von den in diesen Tagen regelmäßig strapazierten Achtundsechzigern bis in eine triste Gegenwart reicht. Aufbruch der Liebe und Verlöschen des Lebens als ein großer Bogen, der fünfzig Jahre überspannt.
Ob das nun überspannt daherkommt oder in seinen Bann zieht, ist nicht einfach zu entscheiden: In sich sind die Bilder – ganz im Sinne des Romanautors Henri Murger – schlüssig, miteinander locker verknüpft und vor allem durch lange Zeiträume getrennt. In der Kommune anno 1968 hüpft Musetta aus dem Bett Rodolfos und macht Marcello trotz revolutionärer Konzepte „freier“ Liebe eifersüchtig. Schlüssig auch, dass sich der Dichter zwar einen roten Pullover überzieht, im Anbandeln mit dem gesitteten Töchterchen, das neugierig zu dem alternativen Treiben lugt, dann aber seine wohl ebenso bürgerliche Herkunft schmachtend wieder einholt. Die 68er als dekadente Behauptung; beim Beschwören der „Poesia“ wird die rote „Mao-Bibel“ aus dem Bücherwust gefischt.
15 Jahre und ein Bild später sieht die Sache anders aus: Die konsumsatten Achtziger treten auf, Aerobic-Mädels und bettelnde Punker; die bürgerlichen Damen fühlen sich unwohl an ihren Espressotischen. Der Maler Marcello steckt immer noch in seinem Blaumann, Musetta lebt ihre Konsumorgie auf Kosten des graumausigenAlcindoro (Tobias Germeshausen) aus, der Kinderchor kommt blechern aus der weihnachtlichen Beschallungsanlage. Ein Genrebild, dem der Kontakt zum Vorher fehlt: Die Figuren tun sich schwer, glaubwürdig zu sein, weil sie aus Puccinis Schlag-für-Schlag-Dramaturgie gelöst sind.
Im dritten Bild – im Zusammenhang der Oper eh das problematischste – bricht Martina Vehdie innere erzählerische Geschlossenheit auf. Mimis Abschied findet vor dem Eisernen Vorhang statt – ein herausgehobener Moment, eine neue Ebene. Sollten die „sognid’amor“, die Liebesträume, doch nur isolierte sentimentale Gespinste einer überhitzten Poetenfantasie gewesen sein? Doch die Szenerie fällt zurück ins türkis-grünliche Gemeinschaftszimmer eines tristen Altenheims, in dem Mimis Leben leise verraucht. Wo sonst der Tod einem jungen Leben tragisch seine noch nicht gelebten Möglichkeiten raubt, tritt bei Martina Veh der Schmerz eines Todes nach einem langen Dasein, erfüllt von ungelebtem Leben.
Dieses Konzept nimmt Puccinis Oper die schreiende Schärfe, den Stachel der existenziellen Ungerechtigkeit. An deren Stelle will die Inszenierung die Bitternis gescheiterter Lebensgeschichte setzen. Aber dafür sind Puccinis Personen zu skizzenhaft gezeichnet, seine Szenen zu schlaglichtartig konzipiert. Die Oper ist nicht Murgers Roman, und die Dramaturgie der Librettisten Giacosa und Illica lebt von der gestrafften Zeit, nicht von der epischen Entwicklung eines halben Jahrhunderts. Dazu kommt, dass sich die Regie schwer tut, zwischen den Personen Spannung aufzubauen – weder in der Beziehung zwischen Rodolfo und Mimi, noch in den Konflikten einer eher fürsorglichen als kapriziösen Musetta mit ihrem Marcello.
Silke Evers (Mimi), Daniel Fiolka (Marcello) © Nik Schölzel
Das beginnt schon bei dem merkwürdig flauen Kennenlernen von Mimi und Rodolfo im ersten Bild: Der mit der Partie überforderte Roberto Ortiz hat nicht die stimmlichen Mittel, um den „poeta“ zu charakterisieren oder in Farbe und Dynamik seines Tenors die bebende Erotik dieses Spiels mit seiner willkommenen Täuschung auszudrücken. Wie so oft stören sein gequetschtes Timbre, unsauber gebildete Vokale, kehlige Tongebung. Rodolfo ist keine klassische Belcanto-Partie, aber Ortiz erfüllt auch die Forderungen des zur Puccinis Zeiten modernen veristischen Stils nicht. Dazu fehlen Strahlkraft, sicherer Sitz, brillante Höhe, auch der Gestus eines unmittelbar emotionalen Gesangs.
Wesentlich adäquater kann sich Silke Evers profilieren. Obwohl sie eher Silberschimmer als Goldglut in der Kehle hat, gibt sie der jugendlichen Mimi im Zentrum einen leuchtend-warmen Kern, in der Höhe Glanz und Sicherheit im Legato. Die Kraftlosigkeit der gealterten Frau im grellbunten Morgenmantel mit seinen Pop-Art-Blüten lässt Evers in einer melancholisch gedämpften Stimmfarbe nachfühlen: Die Kostümbildnerin Magali Gerberon, aber vor allem die Maskenbildnerei mit ihrem Chef Wolfgang Weber haben ganze Arbeit geleistet!
Für Daniel Fiolka ist Marcello eine Paraderolle: Ob als heftiger Liebhaber der stimmlich wie darstellerisch ausgezeichnet aufgelegten Musettavon AkihoTsujii oder als verständnisvoller, unter dem Wissen von Mimis tödlicher Krankheit leidender Freund: Klangliche Opulenz ist Fiolkas Sache nicht, aber er vermag zu charakterisieren, die Worte zu profilieren und vor allem im Piano- und Mezzoforte-Bereich einen tragenden, variablen, vitalen Ton zu entwickeln. Gemeinsam mit dem schwedischen Bariton KosmaRanuer als Schaunard und Igor Tsarkov als Colline mit dem sensibel gesungenen „Vecchiazimarra“ bilden sie ein ansprechendes Ensemble; Tsarkov beweist, wenn er nicht wie in Verdis „VȇpresSiciliennes“ überfordert wird, dass er über einen wohlklingendenBass verfügt und den Ton sauber bildet. Anton Tremmels Chor und Extrachor bewährt sich und hält zuverlässig stand, wenn es im zweiten Bild szenisch drunter und drüber geht.
Bei Enrico Calesso wähnt man sich zuweilen eher bei Claude Debussy als bei Giacomo Puccini: Der Würzburger GMD akzentuiert messerscharf, lässt die Blechbläser des Philharmonischen Orchesters hart anblasen und die Töne definiert in den Raum setzen. Harsch wird Puccinis Melos abphrasiert; den Streichern ist kein wohliger Schmelz erlaubt. Das irritiert, ist aber konsequent: Dieser Stil zeigt, wie modern Puccini für sein Orchester komponiert hat – eine Tatsache, die in hochnäsiger Abschätzigkeit gerne ignoriert wurde und zum Teil heute noch wird.
Statt sahniger Fülle überzieht Calesso also die Partitur mit silbriger Kontur, dem Klang fehlen die wohlig rosa Kalorien. Aber im entscheidenden Moment weiß Calesso, wie Puccinis Bögen zu spannen sind, wie das Melos mit Glanz und Dolcezzazu erfüllen, aber auch in sprödes, fahles Zwielicht zu tauchen ist. Manchmal wird das Cantabile zu langsam und verliert seine innere Energie, vor allem im ersten Teil der Oper fehlt den Geigen der seidige, innerliche Klang. Aber die geschärfte, ungeschönte Sicht auf Puccini bewährt sich: Das Unvertraute erweist sich als das Wahre, die Schönheit ergibt sich aus dem Sinn.