WÜRZBURG: MADAMA BUTTERFLY am 17.12.2014 (Werner Häußner)
Dreiunddreißig Jahre war „Madama Butterfly“ am Mainfrankentheater Würzburg nicht zu sehen. Damals, 1980/81, hatte Regisseur Wolfram Dehmel die süßliche Tradition, das „kleine Fräulein Schmetterling“ als sentimentale Liebesschmonzette zu inszenieren, gründlich infrage gestellt und Puccinis Oper auf ihren Kern zurückgeführt: Mit der unvergesslich sensiblen Veronika Diefenbacher in der Titelrolle zeichnete er die Tragödie einer Frau nach, die sich in einer existenziellen Entscheidung von ihrer Familie, Kultur und Religion lossagt und katastrophal scheitert. Dehmel hatte damals viel vorweggenommen, was Harry Kupfers gerühmte Frankfurter Inszenierung bewegend ausarbeiten sollte. Nur: An einem kleinen Haus wie Würzburg wurde das damals überregional nicht registriert.
Jetzt hat es Arila Siegert in Würzburg geschafft, der wegweisenden Regiearbeit von damals eine ebenso ernsthafte und kompromisslose, dabei sorgfältig am Text der Oper orientierte Deutung an die Seite zu stellen. Und wieder trägt mit Karen Leiber eine Darstellerin von Rang das Konzept entscheidend mit. Doch die neue Würzburger „Butterfly“ ist auch ein starkes Plädoyer für ein funktionierendes Ensembletheater: eine bedrohte Gattung, die von ignoranten Kulturpolitikern wie alert-anstelligen Theaterleuten – weil angeblich nicht mehr zeitgemäß oder nicht mehr finanzierbar – immer häufiger in Frage gestellt wird. Wuppertal ist das aktuelle Beispiel eines soeben verunglückenden Experiments in dieser Richtung.
Wenn sich in Würzburg die Szene belebt, blicken wir auf Hans Dieter Schaals nüchtern ästhetischen Raum, im Vordergrund elegant sachlich gehaltene Stufen und Kuben, im Hintergrund ein durch japanische Papierwände und –türen begrenzter Raum. Benjamin Franklin Pinkerton ist der einzige, der respektlos mit Schuhen in sein künftiges „Liebesnest“ stapft: ein erstes der vielen Zeichen, mit denen Arila Siegert ihre Personen kennzeichnet. Der Marineoffizier ist kein Brutalo, aber er hat kein Gespür für die Folgen seines Handelns. Er zeigt einen selbstverständlichen Kolonialismus, der sich gar nicht die Mühe macht, tiefer nachzudenken. Bruno Ribeiro als Gast gibt dem schlanken Amerikaner die Züge eines netten Jungen, der es genießt, seefahrend fremde Länder und exotische Erotik auszukosten. Sein Rassismus ist umso verstörender, weil er sich dem „Anderen“ freundlich zuwendet, dabei aber nur seine eigenen Interessen im Sinn hat.
Arila Siegert lässt uns die handelnden Personen auch durch die Augen Cio-Cio-Sans sehen, jener fünfzehnjährigen „Butterfly“, die pubertär radikal Pinkerton als die ganz große Alternative zu ihrem bisherigen Dasein verklärt. Für ihn setzt sie auf extremes Risiko: Sie schließt sich sogar seiner christlichen Religion an. Der Verachtung ihrer bisherigen Welt und ihrer Verwandten, die Pinkerton deutlich ausdrückt, setzt sie nichts entgegen – stellt sie sich doch innerlich im Grunde auf seine Seite. Siegert demonstriert das in der Führung der Personen. Und lässt folgerichtig die Japaner von Kostümbildner Götz Lanzelot Fischer in grelle Folklore kleiden, lässt sie nach schönster Klischeeart hereintrippeln, sich auf die Knie senken, sich püppchenhaft bewegen: eine Kultur aus der Sicht des Fremden und – im Falle Cio-Cio Sans – der fremd Gewordenen. Am Ende, nach der furchtbaren Enttäuschung, ist das traditionelle weiße Brautgewand, das Butterfly anlegt, ein Zeichen des Todes und eines der Rückkehr zu ihrer traditionellen Kultur.
In diesem Moment spielt eine andere szenische Chiffre eine bedeutende Rolle. Im Liebesduett am Ende des ersten Aktes entgrenzt sich die „japanische“ Welt: Die Wände heben sich und lassen ein Boot, getaucht in blaues Licht, erscheinen; eine Barke der Liebe, ein Zufluchtsort, enthoben der Realität. Das Boot markiert den innersten seelischen Bezirk, in dem Butterfly ganz ihr eigen ist. Suzuki und Cio-Cio-San schmücken es mit Blütenzweigen, als sie den zurückkehrenden Pinkerton erwarten. Aber zwischen den Planken nistet sich auch der Tod ein: Siegert lässt in dem Moment, in dem Sharpless erstmals andeutet, das es keine Rückkehr Pinkertons geben könnte, eine schwarze Gestalt im Hintergrund auftauchen, abgeleitet von dem düsteren Unheilspropheten des ersten Akts, dem Onkel Bonzo (Heyong-Joon Ha). Er wird der dunkle Begleiter Butterflys, zu ihm zieht sie sich zum Sterben in den Schatten des Bootskörpers zurück. Kein Harakiri also, sondern ein Verlöschen ihrer Existenz, für das Siegert ein bezwingendes Bild gefunden hat.
Karen Leiber kehrt in ihrer wunderbaren Verkörperung des japanischen Mädchens das Hoheitsvolle hervor, jenen jugendlichen Ernst, der sich zum Äußersten entschlossen an ein Ideal ausliefert. So zeigt sie, dass Butterflys tragischer Irrtum nicht aus den Grenzen kindliche Wahrnehmung entspringt, sondern aus der gesteigerten seelischen Sensibilität einer heranwachsenden, sich selbst überaus bewussten jungen Frau. Leiber agiert stimmlich mit erfülltem, leuchtendem Ton, jenseits möglicher technischer Einwände überzeugend mit der Entschlossenheit einer starken Seele. Ihr zur Seite ist Sonja Koppelhuber einmal keine ältliche Matrone, sondern eine junge Suzuki, eine Gefährtin Butterflys, die nicht mit dräuendem Alt, sondern mit warmem Mezzosopran die hilflose Verzweiflung der zu Passivität verurteilten Freundin ausdrückt. Barbara Schöller gibt als Kate Pinkerton erneut eine Kostprobe, wie sie selbst in wenigen Momenten eine Figur zum Leben zu wecken versteht.
Die Männer sind in dieser Oper schwach: Konsul Sharpless ist ein freundlich Anteil nehmender Mann, der mit diplomatischen Hinweisen versucht, die vorhersehbare Katastrophe abzuwenden, aber nicht den Mumm zum entscheidenden Schritt aufbringt. Daniel Fiolka zeichnet diese schwankende Person mit zuverlässigem, diesmal in der Höhe überfordert klingendem Bariton. Bruno Ribeiro als Pinkerton strahlt das anziehende Charisma des Fremden aus, entpuppt sich aber als profillose, sentimentale Figur. Stimmlich prunkt er mit dem Glanz einer
gesunden Mittellage, weckt aber mit einer strapaziert klingenden, mit viel Krafteinsatz gebildeten Höhe Zweifel: Vor vier Jahren, als er den Icilio in Saverio Mercadantes „Virginia“ im irischen Wexford sang, wirkte sein Tenor noch ausgeglichener, gerundeter. Goro, von Joshua Whitener ohne charaktertenorale Verfärbungen gesungen, ist weniger der schmierige Händler mit Häusern und Geishas; eher kann er nicht nachvollziehen, was Butterfly bewegt, und will ihr nach seinen Maßstäben aus der Misere helfen.
Mit dem Philharmonischen Orchester erstritt sich GMD Enrico Calesso einen weiteren Triumph in seiner Laufbahn am Mainfrankentheater. Auch er nimmt Abschied von den bittersüßen, melodisch überzuckerten Interpretationen vergangener Kapellmeister-Generationen. Sein entschlacktes Dirigat lässt hören, wie viel Hartes in Puccinis Partitur notiert ist, wie unversöhnlich sich Klänge reiben können, selbst wenn sie harmonisch auf Konsonanz angelegt sind. Calesso demonstriert aber auch, mit welcher Meisterschaft es Puccini verstand, mit instrumentalen Details Stimmungen zu wecken, Gedanken und Gefühle zu unterstreichen.
Vor allem in den in Würzburg geöffneten Strichen, die auf die Mailänder Urfassung zurückgehen, wird das deutlich: Viel aufschlussreicher wirkt der familiäre Hintergrund der Japanerin; viel drastischer zeigen sich Arroganz und Ignoranz des Amerikaners. Was Calesso – für meine Begriffe zu forsch – ausmerzt, sind die groß angelegten emotionalen Höhepunkte. So subtil er im Lyrischen vorgeht, so verflachend fasst er Dramatisches auf. Doch nicht alles, was er einebnet, muss unter dem Stichwort traditionalistischer Schlamperei eingeordnet werden. Letztlich überzeugen Orchester und Dirigent durch den Ernst und das Engagement, mit dem sie sich Puccini widmen. Der enthusiastische Beifall im – wie stets – gut gefüllten Haus beweist, dass die ausgezeichnete Ensemble-Leistung und die durchdachte Regie beim Publikum auf viel Gegenliebe stoßen.