WÜRZBURG: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL
am 10.12.2016 (Werner Häußner)
Der Anfang verspricht viel. Während die Ouvertüre im Untergrund der hübschen melodischen Einfälle Mozarts nervös vibriert, begegnen sich Bassa Selim und Konstanze vor dem Vorhang: scheue Gesten des sich Annäherns und sich Entziehens. Beide wagen einen europäischen Tanz, mit starrem Blick betrachtet von verschleierten Menschen links und rechts aus der Gasse. Und die Szene in unwirklich rötlichem Licht wird argwöhnisch beobachtet von Belmonte. Ist es sein Angsttraum? Sieht er den Verlust seiner Braut vor dem erschrockenen inneren Auge?
Dann, als sich die Bühne im Mainfrankentheater Würzburg öffnet, fällt der Blick auf eine der heute üblich gewordenen, knausrigen Stadttheater-Ausstattungen. Geld ist ja keines mehr da, so muss mit preisgünstigen Rudimenten gearbeitet werden. Ein braun-goldener Vorhang schließt eine ziemlich leere Bühne nach hinten ab. Osmin, wohl ein Gärtner, schaut sich seine Piaggio Ape von unten an, unwillig über die Störung durch Belmonte. Auf der Ladefläche zwei Palmen. Sie dekorieren später eine Bank. Die eröffnende Szene bleibt in Sigrid Herzogs Gestaltung arm an Humor und arm an Charakterisierung. Pedrillo, ein kecker Bursch, fühlt Respekt vor Osmin, putzt die Scheiben des Kleinlasters wie in einer servilen Übersprunghandlung. Die Zuschauer freuen sich, als Osmin sein dreirädriges Lastgefährt knatternd hinwegmanövriert.
Die spärliche Ausstattung Davy van Gervens – im zweiten Teil reicht es gerade noch für zwei Stühle auf der leeren Bühne und einige schlanke Stoffhänger mit kryptischem Sinn – wäre kein Hindernis für die Inszenierung, zu Relevanz zu kommen. Herzog, bis 2015 Vizedirektorin der renommierten Otto-Falckenberg-Schule in München, ansonsten in den Annalen der Oper nicht sonderlich oft verzeichnet, verzichtet zum Glück auf die Pseudo-Aktualität nahöstlicher Kriegsschauplätze. Bassa Selim mit Smoking und Fliege hat auch nichts vom traditionellen orientalischen Potentaten. Osmin trägt eine Art blauer Dienstuniform, Turban und Pluderhosen bleiben im Fundus. Nur der tüchtige Chor agiert in östlich anmutenden langen Gewändern und Schleiern. Und die Kissen der langen Bank des zweiten Akts erinnern ganz vage an das Klischee des „Serails“.
Heutige Menschen also handeln auf der Bühne, die sich nicht am ohnehin nur konstruierten Gegensatz der Kulturen abarbeiten, sondern die Wechselfälle und Paradoxien der Liebe verhandeln. Die konzeptionellen Ansätze dazu sind da. Doch die sinnliche Konkretion lässt zu wünschen übrig. Sie erschließt sich am ehesten noch im ambivalenten Verhältnis Konstanzes zu Bassa Selim. Dessen Werben um die europäische Frau, dessen kultiviertes Auftreten, aber auch sein untergründig aggressives Begehren werden in Wolfram Ruppertis Spielfacetten glaubwürdig herausgearbeitet. Da hätte es der ergänzenden Texte von Christian Dietrich Grabbe nicht bedurft, auch wenn sie dem Charakter mehr Tiefe als Gottlieb Stephanies karge Sätze geben.
Aber die Regie kann nicht schlüssig erklären, wieso Konstanze sich in das feine erotische Geflecht begibt, das sich zwischen ihr und dem Räuber ihrer Freiheit entspinnt. Und warum sie die Nähe eines Menschen sucht – bis hin zum Kuss –, dem sie sich nicht nur mit dem Hinweis auf eine formale Treuepflicht, sondern auch mit dem entscheidenden Argument ihrer Herzensgefühle versagt. Die inneren „Martern“ einer Frau, die gerne über ihren Schatten springen würde, aber es nicht wagt oder nicht kann, hat man in früheren Würzburger Inszenierungen – von anderen Orten gar nicht zu reden – schon deutlicher herausgearbeitet erfahren. Silke Evers gibt sich viel Mühe; aber wie sie „der Liebe Schmerz“ fühlt, während sie unbeschwert trällernd mit Selim hinter den Palmen spaziert, wird szenisch ebenso wenig beglaubigt wie die sich selbst abgetrotzte Entschlossenheit, an ihrem Widerstand festzuhalten, bis sie der Tod zuletzt befreit.
Fragen stellen sich auch angesichts der Figur des Belmonte, dessen blasse Konventionalität mit der Absenz geschärfter szenischer Beobachtung noch verstärkt wird. Zwar ist es reizvoll, Roberto Ortiz‘ spanische Sprachfärbung als Mittel der Charakterisierung einzusetzen, aber er bleibt der Schatten eines Latin Lovers. Verschenktes Potenzial. Und Herr Osmin? Den gibt Tomasz Raff als harmlosen Biedermann – weder ein untergründig gefährlicher Fremdenhasser, noch ein affektgeladener Macho, auch kein empfindsam authentischer Liebender unter rauer Schale. Auch die Alter-Ego-Idee geht nicht auf, die hinter dem szenischen Zeichen stehen könnte, dass Osmin und Bassa Selim im dritten Akt eine ähnliche blaue Montur tragen. Dazu kommt, dass Raff stimmlich eine krasse Fehlbesetzung ist: ein Sänger ohne gesättigten Ton und dramatischen Impetus, die Tiefe spröde mit Druck verbreitert, die Höhe substanzlos. Eine bestenfalls lyrische Stimme ohne expressive Präsenz.
Im dritten Akt verdichten sich bedeutungsvolle Details, ohne das statische Quartett oder das Finale schlüssiger zu machen: Die beiden Frauen halten sich trotzig die Hände, wenn die Musik die Liebe leben lässt. Der Bassa verlässt schmerzbrüllend die Szenerie. Pedrillo und Blonde werfen rote Rosenblätter – o welche Seligkeit. Am Ende fallen im Chor die exotischen Gewänder, zum Vorschein kommen schräge Figuren jeglicher Façon – ah, ja, wir sind unter unseren Verkleidungen alle gleich. Dass Konstanze zu dem resigniert vor dem Vorhang kauernden Bassa Selim zurückkehrt, ist dann nur noch der kraftlose Versuch, der Geschichte ein begreifliches Ende zu machen.
Auch die gesanglichen Leistungen waren nicht dazu geeignet, den szenisch angegrauten Abend zu vergolden. Silke Evers bewältigt mit ihrer kostbaren Stimme die Partie der Konstanze mit feinen farblichen Lasuren und beachtlicher Beweglichkeit, aber statt im Piano durchzustützen, nimmt sie den Atem zurück und gleitet in flache Töne ab. Mit Roberto Ortiz als Belmonte wird nur glücklich, wer glaubt, eine gewisse italienische Phrasierung und ein einigermaßen konzises Legato reichten aus. Wer das kehlig verquollene Timbre, die unfreie Tonbildung, das verquer gebildete „I“ wahrnimmt, wird dieser Art des Singens nichts abgewinnen. Warum Anja Gutgesell als darstellerisch wendige und attraktive Blonde auf ihre Töne Druck macht, weiß der Himmel oder ihr Gesangspädagoge. Nötig ist das nicht. Und Maximilian Argmann hat man offenbar einen festgefahrenen, ungeschmeidigen Ton beigebracht. Maske ist nicht alles – und wenn er sich in Pedrillos „Frisch zum Kampfe“ schon beim hohen a mit verdrückten Vokalen quält, wünscht man sich, der junge Tenor könnte seine Anlagen technisch besser entwickeln.
Das Philharmonische Orchester, in den letzten Wochen mit „Idomeneo“ auf Mozart eingestellt, hat mit dieser zweiten „Entführungs“-Vorstellung – viel zu lange 14 Tage nach der Premiere disponiert – an einigen Stellen mit Unsicherheit zu kämpfen. Aber GMD Enrico Calesso führt stetig und ruhig, lässt das Orchester schnell sein gewohntes Niveau erreichen. In der Ouvertüre sind die markanten dynamischen Kontraste stark betont, das Schlagwerk trumpft auf, während die Holzbläser kaum zu hören sind, die vibrierenden Folgen rascher Achtel und Viertel in den Violinen und die repetierten Noten der Celli nicht genügend drängende Energie geben.
Aber auch das gibt sich: Im Lauf des Abends kommen die Holzbläser zu schönem Recht, die Hörner fügen sich geschmeidig in das Klangbild ein. Calessos Dramaturgie der Tempi stimmt; in der Arie der Konstanze „Traurigkeit ward mit zum Lose“ findet er ein überraschend zügiges, aber überzeugendes Tempo. Vor allem gelingt es dem Dirigenten, die detailverliebten Mikrostrukturen in Mozarts Musik nicht zu vereinzeln, sondern in wohlgesetzten Bögen zusammenzuhalten. Das ist Sinn für Phrasierung, wie man ihn nicht eben häufig hört.
Werner Häußner