WÜRZBURG: CHANSONS – Ballettabend von DOMINIQUE DUMAIS – Premiere
am 29.9.2018 (Werner Häußner)
Dieser Abend ist ein Statement: Einer auf der Bühne fragt nach jemand. Eine andere kommt aus dem Zuschauerraum hinzu, ruft nach jemand. Menschen sehen sich, treffen sich, begrüßen sich, sprechen miteinander. Ein fröhliches Durcheinander vieler Sprachen – und plötzlich sitzen alle in einer Reihe auf Stühlen, bewegen sich synchron, schwärmen aus und differenzieren die Rolle ihrer Körper. Die Herkunft, die Sprache spielen keine Rolle mehr. Menschen finden sich, in einer Gemeinschaft von zwölf Individuen.
Die neue Ballettdirektorin Dominique Dumais drückt so am Beginn ihrer ersten Premiere am Mainfrankentheater Würzburg in einer Choreografie ohne Musik aus, worum es ihr geht: Für ihre neue Wirkungsstätte hat die frühere Mannheimer stellvertretende Ballettintendantin höchst unterschiedliche Typen verpflichtet, je sechs Frauen und Männer, die hier zum ersten Mal gemeinsam tanzen, die ein Ensemble bilden sollen. Ein Prozess, der zu Beginn dieses ersten Abends repräsentiert wird, verdichtet zu einer expressiven Szene.
Dumais wählt für ihren Einstand ihr Erfolgsballett „Chansons“ aus dem Jahr 2008. Eine Choreografie, die keine Helden, keine herausragenden Solisten neben einem Corps kennt. Jeder der zwölf Tänzerinnen und Tänzer hat seine solistischen Momente, jeder tritt heraus und kann sich zeigen. Und jeder muss beweisen, dass er wieder ins Ensemble zurückfindet. Auch das ist ein Statement: Keine Hierarchie, sondern Gleichwertigkeit.
„Chansons“ gehörte zu den Lieblingen des Mannheimer Publikums, so Dominique Dumais bis 2016 stellvertretende Ballettintendantin an der Seite ihres Lebenspartners Kevin O’Day war. Der amerikanische Choreograf ist nun „Artist in Residence“ in Würzburg, begleitet und trainiert die Compagnie mit ihren Mitgliedern aus zehn Nationen und wird auch künstlerische Akzente setzen – zum Beispiel, wenn es ab 3. November die erste neue Arbeit der beiden zu sehen gibt, ein Beethoven-Abend zu „Ludwigs Leidenschaften“. In Mannheim hat O’Day zwischen 2002 und 2016 stolze 41 Produktionen auf die Bühne gebracht und – so das Lob bei seinem Abschied – neue Formate entwickelt.
Auch in Würzburg hat sich das Duo Dumais/O’Day vorgenommen, mit einer Tanzsprache am Puls der Zeit einen kreativen Neuanfang zu setzen – nicht zum Pläsier aller Ballettfans: Der bisherigen Ballettchefin Anna Vita und ihrer Compagnie, die 14 Jahre erfolgreiche Arbeit geleistet und den Tanz als meistgeliebte Sparte am Mainfrankentheater stabilisiert hatte, wurde kein sehr nobler Abschied bereitet. Das gefiel Teilen ihres Publikums nicht. Es gab Proteste und eine gewisse reservierte Skepsis gegenüber der Nachfolgerin, die auch im Vorfeld der nicht ausverkauften Premiere zu spüren war.
Nach zwei intensiven Stunden Tanz zu 25 Chansons war davon nichts mehr festzustellen: Tänzer und Choreografin erhielten herzlichen, freudigen Beifall, auch die ersten Kritiken waren durchweg positiv. Das Konzept war aufgegangen: Zu musikalischen Miniaturen von Jeanne Moreau über Carla Bruni, Francis Cabrel, Léo Ferré, Barbara, Camille bis zu den Klassikern Jeff Buckley, Jacques Brel, Leonard Cohen bis Edith Piaf (in der Grace-Jones-Version von „La vie en rose“) entwickelt Dumais konzentrierte Geschichten, rasch vorbeifliegende Dramen, melancholisch ruhige Betrachtungen, auch verrätselte Szenen, die zumal in der reduzierten Geometrie und den düsteren Grautönen von Jean-Marc Puissants Bühne manchmal wie surreale Gemälde wirken.
Dass es um die Erscheinungsformen der Liebe geht, versteht sich bei den musikalischen Vorlagen von selbst. Dumais reiht Soli und Pas de Deux, im zweiten Teil auch größere Ensembleszenen aneinander, untersucht die Situationen von Einsamkeit und flüchtigem Glück zu zweit, von Attraktion und Abstoßung, von Momenten des Einsseins bis hin zu Dominanz, Aggression, Wut. Die Stringenz der Erzählung ist zweitrangig; oft kommt es auf den Moment einer Stimmung, eines Gefühls an. So ist die Körpersprache auch auf diese Spuren der Emotionen, auf die Chiffren der Gefühle konzentriert und entfaltet sich exzessiv und offensiv (Tyrel Larson), mit unglaublicher Innenspannung (Ka Chun Kenneth Hui), in minutiöser wechselseitiger Aktion und Reaktion (Clara Thierry und Dominic Harrison), in einem anrührend sensiblen Männer-Duo (Marcel Casablanca und Dávid Kristóf) oder in kühlem Selbstbewusstsein (Debora di Biagi), flammender Innerlichkeit (Anna Jirmanova), greller Verzweiflung (Étienne Gagnon-Delorme) und feinnerviger, detailbewusster Reflexion (Viola Daus, Katherina Nakui oder Maya Tenzer).
Die Versuche, auf die Beine zu kommen, das Ausschlittern und Halt Verlieren zeigt immer wieder, dass den Menschen, die hier mal kraftvoll, mal elegant, mal fragil und verletzlich, mal strotzend vor Ich-Bewusstsein agieren, immer wieder der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Im zweiten Teil, der mehr als vor der Pause von der Aktion in der Gruppe lebt, stößt Dominique Dumais‘ Bewegungsrepertoire an Grenzen: Die Geschichten sind auserzählt. Der Schluss setzt noch einmal ein starkes Statement: Die Tänzer stehen gestaffelt in der Stille, mit den Rücken zum Bühnenrand, drehen aber alle den Kopf zurück und richten ihre Blicke aufs Publikum: Eine Einladung, mit ihnen mitzukommen auf dem Weg zum Ensemble? Nach diesem Einstand geht man gerne mit!
Die nächsten Vorstellungen: 7. (15 Uhr), 10., 19., 27. Oktober, 20. November, 1., 21., 26. Dezember 2018 und weitere zwischen Januar und März und im Juli 2019. Info: www.theaterwuerzburg.de