Würdigung von Thomas Bernhard (1931-1989) zum 90. Geburtstag
Von Dr. Claudia Behn
Thomas Bernhard, der Musiker unter den Poeten, illustriert an seiner musikpoetischen Sprache, hatte einst den Wunschtraum, Opern- und Konzertsänger zu werden, in sich getragen, der wohl ohne seine Lungenkrankheit im möglichen gelegen hätte, vollendet heute sein 90. Lebensjahr.
Thomas Bernhard in ganz jungen Jahren (© Fotoarchiv Thomas Bernhard)
Dennoch begleitete ihn, der mit ambivalenten Gefühle das Geigenspiel erlernte und einst am Mozarteum in Salzburg Schauspiel und Dramaturgie studierte, die Musik sein Leben lang. Auch während seiner beginnenden Lungenerkrankung hatte er „die Idee Sänger zu werden, noch nicht aufgegeben“ („Die Kälte“, S. 319f.), denn ich „dachte […], ich werde wieder draußen sein und mein Studium aufnehmen und Sänger werden, und ich sah mich eine einschlägige Laufbahn entwickeln in den bedeutendsten Konzertsälen, in den größten Opernhäusern der Welt“ („Die Kälte“, S. 320). Für die Nachwelt ein Glück, dass dieser Wunsch nur ein Traum geblieben ist, denn sonst hätten wir auf den Poeten Bernhard wohl verzichten müssen. Seine umfangreichen musiktheoretischen und musikpraktischen Kenntnisse, beispielsweise Bach`sche Fugen, Kontrapunkt und Opern wie „Orpheus und Eurydike“ von Gluck oder seine Lieblingsoper die mozartische „Zauberflöte“ (vgl. „Der Atem“, S. 283) und Komponisten wie Richard Wagner und Claude Debussy beschäftigten ihn neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit, deren sprachlicher Ausdruck zu musikalischen Wortkompositionen wurde, legen imposantes Zeugnis davon ab.
Großvater Johannes Freumbichler (1881-1949) (© Fotoarchiv Thomas Bernhard)
In Berührung mit dem Schreiben kam Thomas Bernhard bereits in seiner Kinderzeit in erlebender Anschauung seines dichtenden Großvaters Johannes Freumbichler (1881-1949), der ihm Vertrauter, Ratgeber, Freund und erster Lebensmensch ward und dessen Wirken er weiterführte. Nicht lange nach dem Tod des Großvaters sollte Hedwig Stavianicek seine Rolle einnehmen. Der Großvater war das erste Vorbild, der erste Mensch, der ihn liebevoll so annahm, wie er nun einmal war und sein einziger von ihm selber anerkannter Pädagoge: „Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen“ und „er war mein großer Erklärer, der erste, der wichtigste, im Grunde der einzige.“ („Ein Kind“, S. 80).
Thomas Bernhard als Kind mit seiner Mutter Herta Paula Bernhard (© Fotoarchiv Thomas Bernhard)
Als unehelicher Sohn der Haushälterin Herta Paula Bernhard (1904-1950) und des Zimmermanns Alois Zuckerstätter (1905-1940), dessen äußerliches Ebenbild der Sohn wurde, was die Ablehnung seiner Mutter begründete, wurde er am 9. Februar 1931 in Heerlen in den Niederlanden in einem Entbindungsheim für ledige Mütter als Nicolaas Thomas Bernhard geboren, damit seine Großeltern, deren Ressentiment Mutter Herta fürchtete, nichts von ihrer unehelichen Schwangerschaft erfahren sollten. Doch ganz im Gegensatz zur düsteren Prognose der Mutter freuten sich die Großeltern über die Geburt des Jungen und nahmen den Enkel im September 1931 zu sich. Diese frühkindlichen traumatischen Erlebnisse verleiteten Bernhard zu der These: „Wir werden erzeugt, aber nicht erzogen, mit der ganzen Stumpfsinnigkeit gehen unsere Erzeuger, nachdem sie uns erzeugt haben, gegen uns vor, mit der ganzen menschenzerstörenden Hilflosigkeit“ („Die Ursache“, S. 58). Nachdem seine Mutter 1936 den Friseur Emil Fabjan geheiratet hatte, nahm sie ihren Sohn zu sich, 1930 sollte die Familie um Bruder Peter und 1940 Schwester Susanna erweitert werden. Dies änderte nichts daran, dass sein nunmehriger Stiefvater Gehorsam und Strenge gegen Thomas Bernhard walten ließ und ihm keine Zuneigung schenkte, ganz im Gegensatz zu seinen Stiefgeschwistern, unter dieser Zurücksetzung litt Bernhard lebenslang.
Unterschrift des Dichters (© Fotoarchiv Thomas Bernhard)
Die Bildungsmöglichkeiten, die ihm geboten wurden, in Form von Schule, dem Internat „Johanneum“ in Salzburg und dem Erziehungsheim in Saalfeld (Thüringen), konnten mit ihrem pädagogischen Zwang auf Bernhards freiheitlichen Geistessinn nur befremdlich wirken und Ablehnung hervorrufen: „Die Lern- und Studienzeit ist vornehmlich eine Selbstmordgedankenzeit, wer das leugnet hat alles vergessen“ („Die Ursache“, S. 11). Diesen erzwungenen Erziehungsdrill, wie er auf freiheitsliebende und selbstständig denkende Wesen unweigerlich wirken muss, empfand Bernhard als „Erziehungsverbrechen, wie sie überall auf der ganzen Welt begangen werden, [sie] werden immer unter dem Namen einer solchen außergewöhnlichen Persönlichkeit begangen“ („Die Ursache“, S. 72), um auf Doktrinen wie den Nationalsozialismus unter Adolf Hitler, aber auch die religiöse Vereinnahmung und Bestrafung im Namen von Jesus im Christentum zu verweisen. So musste Schulbildung und damit auch die ausübenden Träger dieser Einrichtung folgerichtig Ablehnung bis Hass erzeugen: „Ich verachte diese Professoren, und ich haßte sie nur mehr noch mit der Zeit, denn ihre Tätigkeit hatte für mich nur darin bestanden, daß sie jeden Tag und auf die unverschämteste Weise den ganzen übelstinkenden Geschichtsunrat als sogenanntes Höheres Wissen wie einen riesigen unerschöpflichen Kübel über meinem Kopf ausschütten […]. Völlig mechanisch und in dem ja berühmten professoralen Gehabe und indem berühmten professoralen Stumpfsinn zerstörten sie mit ihrer Lehre, die nichts anderes gewesen war als die ihnen von der staatlichen Obrigkeit vorgeschriebene Zersetzung und Zerstörung und, in böswilliger Konsequenz, Vernichtung, die ihnen anvertrauten, jungen Menschen als Schüler“ („Die Ursache“, S. 90f.). Und um noch einen Schritt weiter zu gehen, bezeichnete der den „jahrhundertealte[…][n], faul geworden[…][n]“ Unterrichtsstoff als „Geisteskrankheit, bei welchem das Denken jedes einzelnen Schülers ersticken muss“ („Die Ursache“, S. 91). In seiner Kritik am Katholizismus, wie auch an der menschenverachtenden Diktatur des Nationalsozialismus, die Bernhard in einem Atemzug benennt und deren Massenphänomen, bezeichnet er als „ansteckende Krankheiten, Geisteskrankheiten und sonst nichts“ („Die Ursache“, S. 75), da sie Geistesfreiheit, freies Denken, Eigenständigkeit und Individualität unmöglich zu machen scheinen.
Thomas Bernhard als Jugendlicher (© Fotoarchiv Thomas Bernhard)
Nachdem Bernhard die Schule aus freiem Entschluss verlassen hatte, fand er in seiner 1947 begonnenen Lehre als Einzelhandelskaufmann im Kolonialwarenladen, genannt der „Keller“, von Karl Podlaha in der Scherzhauserfeldsiedlung in Salzburg, eine zeitweilige Erfüllung: „Die Kellerzeit war vom ersten Augenblick an eine kostbare Zeit gewesen“ (Der Keller“, S. 111), wenn er auch die Armensiedlung als Vorhölle definierte. Mit der beginnenden Lungenerkrankung, die anfangs ein „Schatten auf der Lunge“ mit dem auch ein „Schatten auf meine Existenz gefallen“ („Die Kälte“, S. 293) war, sich aber über eine Lymphdrüßenschwellung mit Morbus Boeck zur Sarkoidose im fortgeschrittenen Stadium mit dilatativer Kardiomyopathie ausweitete (vgl. „Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard 2021, S. 169), nahte der Tod, dem er am 12. Februar, drei Tage nach seinem 56. Geburtstag an Herzversagen im Beisein seines Bruders Peter Fabjan, erlag. Bedingt durch seine schwere Erkrankung musste er resigniert in der Lungenheilstätte Grafenhof feststellen: „Die Welt ist eine Strafanstalt mit sehr wenig Bewegungsfreiheit“ („Die Kälte“, S. 313). Als er 1968 durch seine Erkrankung die Endlichkeit des Lebens am eigenen Körper fühlte, äußerte er bei Verleihung des österreichischen Staatspreises: „es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“.
Thomas Bernhard als anerkannter Poet (© Fotoarchiv Thomas Bernhard)
Bernhard musste sich, bedenkt man seinen hindernisgesäten Lebensweg ein Leben als Künstler erkämpfen, die harte Realität in ertragbare Fiktion umwandeln, um sie zu überwinden. So rang er literarisch, wie Bruder Peter Fabjan betont, mit den Menschen an seiner Seite. Bernhard der sich stets in sicherem Abstand und geschützter Distanz zu seiner Umgebung brachte und kaum jemanden je in sein Inneres blicken, sich auch nie politisch einordnen ließ, nutzte die literarischen Mittel des Angriffs und der Provokation mit einer „tief anklagende[n] Kraft in Geist und Wort“ (Fabjan 2021, S. 21) als Verteidigung seiner selbst. Doch darf bei der Lektüre nicht vergessen werden, dass Bernhards messerscharfe Äußerungen oftmals spiegelverkehrt gemeint seien, wie Bruder Peter bestätigt. Bernhards „Denken und Komponieren mittels Sprache“, sein emphatisches Einfühlen in die Charaktere, der scharfe Analyseverstand und die Fähigkeit zur Abstraktion, geschwungene, nicht enden wollene Schachtelsätze, in Wiederholungen, verwandt der Barockmusik und der seriellen Musik, die nicht ermüden, nicht bloß reproduzieren, sondern stets neue Details hervorschleudern, der fehlenden Beschreibung von Ort (Ortswechsel sind eher selten), Zeit und Natur prägen den Stil Bernhards. Hinzu kommt der sofortige erzählerische Einstieg ins Geschehen, ohne Einleitung, Einführung oder Personenvorstellung, beißende Ironie und Sarkasmus, der der Sprache Biss verleiht und Themen wie Zwang versus Freiheit, Krankheit und Tod, Vereinsamung und Selbstzersetzung, die Verbildlichung Außenstehender und Individualisten, sowie sein Hauptthemenfeld, dem Leiden an Familie und Welt, in beabsichtigter Handlungsarmut, zeigen eine faszinierende Gedankenwelt, eine durchdachte, mitreißende Philosophie der Menschheit. In sich stetig steigernden Wiederholungen der oft kategorischen Behauptungen der Monologe des Ich-Erzählers, zumeist Wissenschaftlern, sogenannten „Geistesmenschen“, die teilweise durch Wiedergabe aus zweiter Hand zur Distanzierung führen („sagte er“ usw.) und in dauernden kreisendem Fortweben stetig weitergesponnen werden, treten immer neue Details zutage, der Finger wird stets tiefer und tiefer in die Wunde gebohrt.
Zu seinen Werken gehören die Romane „Frost“, „Verstörung“, „Das Kalkwerk“, „Korrektur“, „Beton“, „Holzfällen“, „Der Untergeher“, „Alte Meister“ und „Auslöschung“ sowie Erzählungen, Dramen, Dramolette und Schauspiele wie „Ein Fest für Boris“, Gedichte, Prosaskizzen sowie die autobiografischen Werke „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ und „Ein Kind“. Für Musikfreude interessant ist seine Kammeroper „Köpfe“ und das Ballett mit Stimmen „die rosen der einöde“, beides komponiert von Gerhard Lampersberg (1957, 1959). Durch seine sarkastische Schmähkritik der besseren Gesellschaft Österreichs, lösten seine Theaterpremieren und Buchveröffentlichungen zumeist Skandale aus, was den Werken aber keineswegs schadete und ihre Verbreitung beschleunigte.
„War Thomas Bernhards Schreiben nicht ein zu Kunst gewordenes Leben, ein Leben, das sich in die Kunst gerettet hat?“ (Fabjan). Das ist, betrachtet man das Vorgenannte eindeutig zu bejahen. Für Regisseur Jean-Luc Godard ist Thomas Bernhard „der größte Schriftsteller unserer Zeit“, das kann ich voll und ganz nur unterschreiben. Die größte Würdigung seines Lebenswerkes ist es wohl, ein Buch aus seiner Feder zur Hand zu nehmen und auf Entdeckungsreise durch die Bernhard`sche Welt zu gehen.
Dr. Claudia Behn
Website: www.claudiabehn.de
Quellen:
Bernhard, Thomas, Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte, Berlin 1983.
Bernhard, Thomas, Ein Kind, München 2002.
Bernhard, Thomas, Erzählungen, Frankfurt am Main 2019.
Fabjan, Peter, Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard. Ein Rapport, Berlin 2021.