Wittenberg / 14. Renaissance Musikfestival vom 25.10. – 03.11.2019
Das 14. Wittenberger Renaissance Musikfestival geht in diesem Jahr neue und spannende Wege. Sein Motto: „Die weibliche Saite – Musikerinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ lässt sofort erkennen, wo diesmal der Schwerpunkt liegt.
Sängerinnen, die auch heutzutage gerne die Lieder aus der Renaissancezeit singen, gibt es durchaus. Nun aber werden in den 11 Konzerten auch die Werke von lange verkannten Komponistinnen zu hören sein. Und wie es sich bald herausstellt, haben sie das auch voll und ganz verdient.
Bild: Wittenberg, der Markt mit Rathaus (l) und den Türmen der Stadtkirche. Foto Ursula Wiegand
Die Stücke, die im Verlauf des Festivals zu hören sind, zeigen: Frauen können bei entsprechendem Talent genau so gut komponieren wie Männer, aber vielleicht mit anderen Schwerpunkten. Das Persönliche, wie Liebe und Leid, Enttäuschung, Klage und Tod nimmt mehr Raum ein als beim männlichen, mitunter kriegerisch ausgerichteten Musikschaffen.
Frauen, die Kinder großziehen und einen womöglich großen Haushalt in Gang halten müssen, kommen in der Regel nicht viel herum. Wenn überhaupt das Komponieren möglich ist und geduldet wird, geht es dabei oft um persönliche Stimmungen und Gefühle. Irgendwie kreist alles um die Liebe, die ersehnte, die erfüllte die vergebliche oder die erloschene.
Doch die in Wittenberg ausgewählten Frauenwerke steckten voller Kraft und Fantasie.
Insgesamt war eine oft mitreißende Musik zu erleben. Was die 46.000 Einwohner Stadt bei diesem elftätigen Festival unter der künstlerischen Leitung von Thomas Höhne an den ersten drei Tagen geboten hat, erstaunte und war allen Lobes wert.
Selbst die Stars der Renaissancemusik-Szene sind in die Lutherstadt Wittenberg, so ihr offizieller Name, gekommen und haben sich vermutlich ebenso wie das anreisende Publikum über dieses hübsche, geschichtsträchtige Städtchen gefreut. Die umfänglichen Sanierungs- und Restaurierungsmaßnahmen, die bis 2017 – zur 500-Jahr-Feier von Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirchentür – durchgeführt wurden, haben der Stadt und ihren Menschen gut getan.
Strahlend weiß präsentiert sich am Markt das stattliche Alte Rathaus mit seiner prächtigen Renaissancefassade. Seitlich schauen die aufgefrischten Türme der Stadtkirche über die Dächer. Der große Rathaussaal ist also genau der richtige Ort für das festliche 70-minütige Eröffnungskonzert namens „The Muses Feast“.
Eröffnungskonzert mit Juliane Laake und Hille Perl, Gambe, Petra Burmann, Theorbe, Marthe Perl und Sarah Perl, Viola da Gamba, Julla von Landsberg,Gesang. Copyright: Corinna Kroll An Musik-Prominenz fehlt es dabei nicht. Die weltweit geschätzte Gambistin Hille Perl ist gekommen und mit ihr zwei weitere „Perlen“, ihre Tochter Marthe und ihre Nichte Sarah Perl. Mit von der Partie sind noch Juliane Laake und Petra Burmann (Theorbe).
Hille Perl hat auch weitgehend das Programm entworfen, und da es um die Frauen ging, sind ihr alsbald die Musen eingefallen: Kleio, die Muse der Geschichtsschreibung, Euterpe, die Muse der Lyrik, Melpomene, die Muse der Tragödie und Erato, die Muse der Liebesdichtung.
Die Muse Terpsichore war für das Tanzen zuständig, Thalia für das Pastorale, Kyalliope für die Philosophie und Urania für die Astronomie. Das Sagen hat schließlich Polyhymnia, die Muse des Gesangs, hier in Gestalt der versierten Julla von Landsberg. Doch ebenso schön singen die so wunderbar weich und satt klingenden Gamben.
Am bekanntesten aus dieser Instrumentenfamilie ist die Viola da Gamba, die Vorläuferin der heutigen Violoncelli. Im Gegensatz zum Cello mit seinen 4 Saiten variiert die Bespannung bei den Gamben. „Meine hat sieben Saiten“, betont Hille Perl. Im Verlauf der Darbietungen sind auch kleinere Instrumente zu erleben, wie die Diskant-, Alt- und Tenorgamben. Sie alle hüllen das Publikum in einen warmen Klangmantel.
Was die Lieder betrifft klingen die volkstümlichen, als „Traditional“ bezeichneten Stücke recht einfach und sind leicht nachzusingen. Dazu zählt das weltbekannte „Greensleeves“, die Klage eines Mannes, den die grünärmelige Dame trotz seiner intensiven Bemühungen und Liebesbeweise nicht in gleicher Weise geliebt hat. Großartig und variantenreich hat die Gamben-Gruppe das musiziert.
Anderes ist anspruchvoller komponiert und stammt beim Eröffnungskonzert doch von Männern, beispielsweise von John Dowland (1563-1626), dem Star-Lautenisten im elisabethanischen Zeitalter oder vom etwas älteren William Byrd (um 1540-1623), dem bedeutendsten Komponisten zu Zeiten Shakespeares.
Selbstverständlich ist auch Henry Purcell (1659-1695) vertreten, dessen Opern wie „Dido and Aeneas“ noch heute aufgeführt werden, z.B. im November während der Barocktage der Berliner Staatsoper und getanzt von Sasha Waltz & Guests.
Abwechselnd klingt nun Charmantes wie Purcells „Nymphs and Shephards“ durch den Saal oder Trauriges, wie Dowlands „How a now I needs must part2. Kleio, der Muse der Geschichtsschreibung ist mit William Byrds „The Battle“ Martialisches zugeordnet. So richtig fetzt es dann beim temporeichen Stück von Christopher Simpson (1605-1669) „Division upon a Ground in e“. Da werfen sich vor allem Hille Perl mit ihrer Gambe und Petra Burmann mit der Theorbe temperamentvoll in die Saiten.
Per saldo dominierten beim Eröffnungskonzert die englischen Komponisten, während von den ebenfalls stilprägenden franko-flämischen oder italienischen Tonkünstlern aus ähnlicher Zeit keine Stücke gebracht wurden. Außerdem hat sich zunächst der bekannte Spruch bewahrheitet: „Die Männer machen Kunst, die Frau interpretieren sie.“ Das ist aber nur eine Feststellung und keine Kritik. Die abwechslungsreiche Musik aus englischen Federn und ihre perfekte Darbietung bildeten einen gelungenen Auftakt und wurden zu Recht mit starkem Beifall bedacht.
Hille Perl nach dem Konzert, Foto Ursula Wiegand
Anschließend steht Hille Perl noch in der Runde, plaudert lebhaft und kommt auf ihre Tochter Marthe zu sprechen. Die spielte zunächst Geige und wollte von der Gambe nichts wissen. Doch eines Tages habe sie zu ihr gesagt: „Ihr beide, der Papa (Anmerkung: der US-Lautenist Lee Santana) und du, ihr seid immer so fröhlich. Ich will nun doch Gambe spielen.“
Da war Hille nach eigenen Worten echt verblüfft, hat aber okay gesagt und sie unter ihren Schülerinnen und Schülern eingereiht. Inzwischen musizieren Mutter und Tochter „auf Augenhöhe“. Und es ist wohl diese Fröhlichkeit, die sich selbst bei kummervollen Stücken durch dieses Festival zieht und an den folgenden Tagen die Zuhörenden ebenfalls glücklich macht.
Musikalischer Stadtspaziergang, Schlosskirche, mit Praetorius Consort Wittenberg (c)Corinna Kroll
Das gilt besonders für den erstmals gebotenen „Musikalischen Stadtspaziergang“. Den Anfang macht das Konzert „Santa Maria“ in der Schlosskirche mit der Sopranistin Julla von Landsberg und dem Praetorius Consort Wittenberg, bei dem auch Kinder singend und spielend mitwirken. Die Rufe „Maria, Maria!“, die Marienliedern aus dem 13. und 14. Jahrhundert entstammen, hallen durch den Raum.
Danach lädt die 2002 gegründete, aber traditionsreiche Wittenberger Hofkapelle zu einem musikalischen Streifzug an die Originalschauplätze der Reformation ein. Selbstverständlich führen nun Luthers Frau Katharina von Bora und die Malergattin Clara Cranach die Gäste mit sachkundigen Infos und lustigen Sprüchen durchs Städtchen. Wittenberg besitzt genügend historische Orte und drinnen wurde sehr gut gesungen und musiziert.
Musikalischer Stadtspaziergang mit Thomas Höhne, Barockgitarre, Julla von Landsberg, Gamshorn, und Daniel Schmidt, Serpent (c) Corinna Kroll
So im Alten Rathaus, wo Thomas Höhne mit der Barockgitarre oder auch mal mit dem „Hümmelchen“ (einer dem Dudelsack ähnelnden Sackpfeife mit Blasebalg) tätig wird. Julla von Landsberg bläst nun in zwei unterschiedlich große Gamshörner und Daniel Schmidt in einen Serpent, ein schlangenartig gewundenes Bass-Blasinstrument aus der Zinkenfamilie. Das für letzteres Lungenkraft nötig ist, räumt Schmidt gerne ein. In Wittenberg, wo alte Musikinstrumente wieder benutzt werden, lässt sich also wirklich was lernen.
Musikalischer Stadtspaziergang mit Friederike Lehnert, Barockvioline, und Hildegard Saretz, Virginal(c) Corinna Kroll
Im Museum im Zeughaus, das bis zu 700 Jahre alte Schätze hütet, warten schon Friederike Lehnert mit der Barockvioline und Hildegard Saretz am Virginal, eine Art Cembalo neuer Bauart, das sich zusammenlegen und in einer großen Tasche transportieren lässt. Mit Schwung bringen sie eine Sonate der italienischen Nonne Isabella Leonarda (1620-1704). In jener Zeit haben in Italien zahlreiche Frauen komponiert, also auch die in Klöstern lebenden. Leonardas Sonate erweist sich als ein feines Stück Musik mit erheblichen Anforderungen an die Interpreten und klingt ausgesprochen fröhlich.
Musikalischer Stadtspaziergang mit Gesine Friedrich und Tobias Höhne, Foto Ursula Wiegand
In der 1368 gestifteten Fronleichnamskapelle, in katholischer Zeit eine Friedhofskapelle, und nach Zweckentfremdung Mitte des 19. Jahrhunderts wieder annähernd in den früheren Zustand versetzt, spielen nun Gesine Friedrich und Tobias Höhne auf Renaissancegamben.
War das schon ein beeindruckender Ort, so ist es noch mehr die ehemalige Klosterkirche der Franziskaner am Stadthaus, wo 2009 die Grablege der Askanier entdeckt wurde. Bei den Grabungen fand man in einer Gruft die sterblichen Überreiste von Kurfürst Rudolf II und auch von Frau und Tochter.
Die Stadtspaziergänger betreten dort einen tiefdunklen, von Kerzen kaum erhellten Raum. Die auf diversen Instrumenten von Gesine Friedrich, Thomas und Tobias Höhne gespielte Musik und der leise Gesang von Julla von Landsberg erzeugt eine mystische Stimmung. Still verlassen die beeindruckten Zuhörerinnen und Zuhörer diese 800jährige, modern umgebaute Stätte. Dieser musikalische Stadtspaziergang hat bei allen „Mitläufern/innen“ viel Anklang gefunden und sollte zu einer Dauereinrichtung werden.
Emma Kirkby & Jakob Lindberg (c) Corinna Kroll
Nur eine Frau konnte auf ihre Weise diese Eindrücke noch toppen: die renommierte englische Barock- und Renaissance-Sängerin Emma Kirkby. Zusammen mit dem Schweden Jakob Lindberg an der Laute bringt sie das Programm „So sounds my Muse“. Gewidmet ist es den bislang kaum bekannten Komponistinnen. Damit schließt es auch an den am Vorabend gezeigten, beeindruckenden Dokumentarfilm „Komponistinnen“ an, den die Leipziger Pianistin Kyra Steckeweh und der Filmemacher Tim van Beveren über komponierende Frauen gedreht haben.
Auch bei Emma Kirkby stammen nicht alle Lieder von Frauen, aber eine stattliche und überzeugende Anzahl. Und eine bessere Anwältin der Komponistinnen als Emma Kirkby lässt sich kaum denken. Die jetzt 70Jährige, die 2007 von der Queen in den Ritterstand erhoben wurde und im Jahr darauf die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford erhielt, gestaltet jedes Lied mit all’ seinen Nuancen, himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt und alles mit leuchtenden Augen, lebhafter Mimik und unvergleichlichem Charme. Ihr Sopran hat noch Kraft für Ausbrüche und besitzt auch eine volumige Tiefe. Aber so ganz glaubt Emma Kirkby nicht, dass einige der in den Liedern bedachten Frauen vor lauter Liebeskummer gleich sterben möchten.
Dennoch singt sie mit viel Verzweiflung die Klage der Ottavia in Monteverdis „Die Krönung der Poppea“, die von ihrem Mann Nerone wegen Poppea aus dem Palast verwiesen wird und den Tod schon vor Augen hat.
Auch das von John Danyel komponierte Lied einer Frau bei der Beerdigung ihres geliebten Mannes geht bei Kirkbys Interpretation zu Herzen. Andererseits lässt sie die Komponistin Francesca Caccini (1587-1640) zu Worte kommen. Isabella Leonarda (1620-1704), die komponierende Nonne, ist bei ihr in lockerer Koloraturkehle genau wie Barbara Strozzi (1619-1677) mit der 8-minütigen Klage „Ardo in tacito foco“.
Die Venezianerin Strozzi muss eine Powerfrau gewesen sein. Sie war keine angestellte Sängerin oder Instrumentalistin, komponierte aber, von ihrem Ziehvater unterstützt, fast unaufhörlich. Acht Sammlungen mit über 125 Einzelstücken hat sie publiziert, gilt als Erfinderin der Kantate und war besonders wegen ihrer Liebeslieder berühmt. Als Mutter von vier unehelichen Kindern kannte sie sich damit aus.
Meisterhafte und anspruchsvolle Kompositionen sind das, doch Emma Kirkby meistert sie ebenfalls mit Temperament und exzellenter Technik. Souverän und locker klingen die schon erwähnten, teils komplizierten Koloraturen und ebenso das Abwärtsgleiten in Halbtönen. Brausender Jubel und „standing ovations“ waren der hochverdiente Lohn.
Noch vieles von diesen tüchtigen Frauen ist in den nächsten Tagen zu vernehmen, auch die Werke von nach wie vor wenig bekannten Komponistinnen aus dem 19. – 21. Jahrhundert. Am 2. November steht sogar ein Historischer Tanzball mit vorheriger Übung auf dem Programm.
Zuletzt, am 3. November, geraten zwei Geburtstagskinder besonders ins Rampenlicht: Barbara Strozzi mit ihrem 400. und Clara Schumann mit dem 200. Wiegenfest. Dazu gibt’s das fröhliche „Amarilli mia bella“ von Giulio Caccini. Dieses Kompliment eines Vaters für seine hochberühmte Tochter Barbara, Gesangsstar am Hofe der Medici in Florenz, lässt sich auch Clara Schumann sicherlich gerne gefallen.
Ursula Wiegand
Tickets unter Tel. 0049-3491-419260 und unter wittenberger-renaissancemusik.de