WIESBADEN/ Maifestspiele: Ein Abend voller Leidenschaft: ‚Otello‘ begeistert das Wiesbadener Publikum der internationalen Maifestspiele
Foto: Karl und Monika Forster
Uwe-Eric Laufenberg hat mit seiner Inszenierung von Verdis „Otello“ bei den internationalen Maifestspielen in Wiesbaden eine Interpretation geschaffen, die das Publikum in eine düstere und kalte Welt entführt. Die Verortung der Handlung im 20. Jahrhundert, betont durch moderne Soldatenuniformen und elegant-schlichte Damenkleider, verleiht der Aufführung einen aktuellen Bezug, der allerdings nicht zum tieferen Verständnis der Oper beiträgt. Das Bühnenbild von Gisbert Jäkel, das mit imposanten Säulen auf einem schwarzen Boden spielt, schafft eine kühle und distanzierte Atmosphäre, die den Lebensraum Otellos umrahmt. Von einem Kriegsschauplatz im ersten Akt bis hin zu einem düsteren, finsteren Schlafgemach im letzten Akt bietet die Szenerie zwar reichlich Raum für die intimen Momente des Dramas, trägt aber auch zur Sterilität der Inszenierung bei. Die Personenführung wirkt oft wie ein Arrangement und in Teilen unvorteilhaft. So muss Cassio schon blind sein, um den lauschenden Otello zu übersehen, der mehr als offensichtlich Zeuge seines Gespräches mit Jago ist. Otello muss sein „Esultate“ von der Seite her anstimmen, was ihm die nötige Präsenz nimmt. Unfreiwillig komisch erscheint es zudem, wenn der Sänger in makelloser Garderobe und frisch frisiert die Bühne betritt – von einem überlebten Sturm und einem Kampf auf Leben und Tod ist nichts zu bemerken. Besonders herausfordernd ist die Darstellung Otellos als Bühnencharakter, der in dieser Inszenierung europäisch wirkt und nicht dunkel geschminkt sein darf. Diese Entscheidung, heute als unausweichlich betrachtet, erscheint als eine Absurdität und Dummheit zugleich. Schließlich ist es doch gerade Othellos Andersartigkeit, die ihn zur Zielscheibe der Ablehnung durch die Gesellschaft macht. Die berühmte afro-amerikanische Diva Grace Bumbry hatte diesen Missstand zu Recht beklagt und sich dafür eingesetzt, dass Charaktere wie Aida oder eben auch Otello dunkelhäutig auf der Bühne dargestellt werden sollten. Ihrer Ansicht nach, die sie wiederholt in der Vergangenheit äußerte, ist dies keine Diskriminierung, sondern eine notwendige Authentizität der Rolle. Bumbry argumentierte, dass die tief verwurzelte Andersartigkeit und die daraus resultierende Tragik, die diese Charaktere erfahren, durch die richtige Darstellung erst wirklich greifbar werden. Die farbliche Anpassung der Darsteller entfernt ein wesentliches Element der Geschichte und schwächt die dramatische Kraft des Werkes.
Laufenbergs Inszenierung bot den Sängern hingegen reichlich Gelegenheit, ungehindert die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Und das war im Falle dieser Besetzung ein Vorteil, denn dieser Wiesbadener Opernabend war ein Ereignis der Extraklasse, wie es das Staatstheater Wiesbaden lange nicht mehr verzeichnen konnte. Eine äußerst ausgewogene Sängerbesetzung und ein exzellenter Dirigent sorgten für ein intensiv bejubeltes Erlebnis, das in seiner Gesamtheit ein denkwürdiger Abend war, wie er in dieser Qualität nur selten zu erleben ist.
Elena Bezgodkova verkörperte die Rolle der Desdemona mit einer bemerkenswerten Mischung aus Zartheit und Stärke. Ihr Sopran zeichnete sich durch eine kristallklare Intonation und eine nuancierte Phrasierung aus. Bezgodkova verlieh der Figur eine tiefe, menschliche Dimension, die besonders in der langen Soloszene des vierten Aktes zur Geltung kam. Besonders beeindruckend war ihr Ave Maria, bei dem ihre Stimme in himmlischen Höhen schwebte und gleichzeitig eine tiefe Innigkeit ausdrückte. Mit sanften Pianissimo-Tönen und intensiver Empfindung entfaltete sie eine berührende Emotionalität, die das Publikum in Atem hielt. Ihre stimmliche Flexibilität und technische Finesse ermöglichten es ihr, die komplexen emotionalen Zustände Desdemonas – von zärtlicher Liebe bis zu tiefster Verzweiflung zu vermitteln.
Aluda Todua beeindruckte als Jago mit seiner kraftvollen Stimme und einer dominanten, spielerischen Darbietung. Sein herrlicher Bariton, kultiviert und technisch sicher, erklang raumgreifend und volltönend. Besonders hervorzuheben ist seine fabelhafte Textbehandlung, sein präzises Spiel mit Akzenten und dynamischen Effekten, das die Vielschichtigkeit der Figur des Jago eindrucksvoll unterstrich. Toduas Darstellung machte einmal mehr deutlich, warum Verdi ursprünglich mit dem Gedanken spielte, seine Oper „Jago“ zu nennen – so zentral und überzeugend war seine Leistung. Seine Arie „Credo in un Dio crudel“ war ein Höhepunkt des Abends, bei dem Todua die finstere Weltanschauung Jagos mit beklemmender Intensität und dämonischer Faszination darstellte. Seine Bühnenpräsenz war stark, und jede seiner Bewegungen schien durchdacht und bedeutungsvoll, was den manipulativen Charakter Jagos noch stärker hervorhob.
Im Mittelpunkt des Interesses stand jedoch der Otello von Martin Muehle, der den ursprünglich angesetzten Andreas Schager ersetzte. Muehle erwies sich keineswegs als bloßer Ersatz, sondern als die deutlich bessere Wahl. Neben Gregory Kunde dürfte Muehle derzeit der stimmlich beste Interpret dieser so komplexen Partie sein, was er an diesem Abend mehr als eindrucksvoll unterstrich. Er brillierte in der Titelrolle des Otello mit einer Vorstellung von hoher Intensität und emotionaler Beteiligung. Seine Stimme strahlte sowohl in den lyrischen Passagen als auch in den dramatischen Höhepunkten. Muehle verkörperte die innere Zerrissenheit und Verzweiflung des Otello mit beeindruckender Authentizität. Seine perfekte Gesangstechnik, das vorbildliche Legato, die klare Artikulation und die natürliche Phrasierung bei bestem Vokalausgleich machten ihn zum unbestrittenen Zentrum der Aufführung. Besonders die mühelosen hohen Töne, die er mit Brillanz und Sicherheit setzte, machten den zweiten Akt zu einem besonders intensiven Erlebnis. Dynamisch und in der sprachlichen Akzentuierung könnte Muehle seinen Otello noch deutlicher profilieren, um die Vielschichtigkeit stärker zu kontrastieren. Mehr Mut zu häufigerem Gebrauch leiser Töne würde die Verletzlichkeit Otellos betonen. Darstellerisch wirkte er durchgehend präsent und vermochte den emotionalen Niedergang seines Rollencharakters eindrucksvoll nachzuzeichnen. Besonders hervorzuheben ist sein „Dio! mi potevi scagliar,“ in dem er die verzweifelte Wut und den inneren Kampf Otellos auf berührende Weise darstellte. Ein großer Vortrag von einem der besten Tenöre, die es heute in der Opernwelt gibt.
Das Wiesbadener Ensemble zeigte ebenfalls gute Leistungen. Besonders hervorzuheben sind Young Doo Park als imposanter Lodovico, dessen Bassstimme mit majestätischer Autorität erklang, und Mert Süngü als lyrischer Cassio, der mit seiner klaren, strahlenden Tenorstimme und seiner charismatischen Bühnenpräsenz überzeugte. Der Chor unter der Leitung von Albert Horne sorgte für einen kompakten und engagierten Klang, der die Massenszenen mitreißend unterstützte und zur atmosphärischen Dichte der Aufführung beitrug. Der präzise und kraftvolle Einsatz des Chors in den Szenen des ersten Aktes, insbesondere in der Sturmszene, trug maßgeblich zur dramatischen Spannung bei.
Geradezu spektakulär geriet an diesem Abend der Vortrag des Hessischen Staatsorchesters unter der Leitung von Will Humburg, der einmal mehr seine besondere Kompetenz für den Meister aus Bussetto demonstrierte. Sein Dirigat lieferte eine äußerst mitreißende musikalische Begleitung, die die emotionale Intensität der Handlung maximal unterstrich. Humburg verstand es vorbildlich, die verschiedenen musikalischen Strömungen von Verdis Partitur zu vereinen und ein packendes Zusammenspiel zwischen Orchester und Sängern zu schaffen. Mit einer feinen Dynamik und einem ausgeprägten Sinn für Dramatik führte er das Orchester zu Höchstleistungen. Die Musik atmete, pulsierte und bebte unter seiner Leitung, und das Orchester ließ sich von dieser Energie anstecken. Die Streicher glänzten mit warmen, satten Klangfarben, die Bläser imponierten durch ihre Präzision und die Schlagzeugsektion verlieh den dramatischen Höhepunkten den nötigen Nachdruck. Besonders hervorzuheben sind die delikaten Soli der Holzbläser im vierten Akt, die die intime Atmosphäre perfekt untermalten. Mit lustvoller Offensive und exzellenter Klangkultur begeisterte der Klangkörper das Publikum, was in großen Ovationen mündete.
Insgesamt trug das herausragende Zusammenspiel von Sängern, Orchester und Dirigent maßgeblich zum Erfolg der Aufführung bei und verlieh Verdis „Otello“ bei den internationalen Maifestspielen in Wiesbaden eine hohe künstlerische Qualität. Es war ein besonderer, intensiv bejubelter Abend, der noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Dirk Schauß, 20. Mai 2024
Besuchte Vorstellung am 19. Mai 2024 im Hessischen Staatstheater Wiesbaden
Giuseppe Verdi
Otello
Will Humburg, Leitung