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WIESBADEN/ Lutherkirche: PAULUS – Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy als Gastspiel des Collegium Musicum Mainz

05.02.2018 | Konzert/Liederabende

Wiesbaden:„PAULUS“ (Gastspiel des Collegium Musicum Mainz) – 3.2.2018

 

1200 Plätze hat die 1908-1910 von Friedrich Pützer im Jugendstil errichte Wiesbadener Lutherkirche. Der  nach dem „Wiesbadener Programm“ errichtete Bau besitzt auch im Innern ein ungewöhnlich stimmiges Gesamtbild, er hat eine gute Akustik und ein reiches kirchenmusikalisches Leben. Dass aber eine Aufführung des „Paulus“ zehn Tage vorher ausverkauft ist und sämtliche Plätze von Hörern der verschiedensten Altersgruppen besetzt sind, ist dann doch eine Überraschung. Schließlich zählt das erste der beiden großen Oratorien von Felix Mendelssohn Bartholdy nicht zum gängigen Repertoire. Ein Naturgesetz ist es offensichtlich nicht, dass sich immer weniger Menschen für geistliche Musik interessieren. Besondere Umstände braucht es wahrscheinlich schon.

Einer davon ist sicher das profilierte kirchenmusikalische Programm der Wiesbadener Lutherkirche. Dieser Abend ist aber auch ein Gastspiel von der gegenüberliegenden Rhein-Seite. Für sein Semester-Anschlusskonzert musste das Collegium Musicum der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz die Gastfreundschaft der Luthergemeinde in Anspruch nehmen, weil im faschingsversessenen Mainz um diese Jahreszeit weder ein geeigneter Saal noch wirkliches Interesse für große Kirchenmusik zu finden ist. Chor und Orchester des Collegium Musicum wiederum sind offen für alle Studierenden, Mitarbeiter und Ehemalige der Universität, und so findet sich das Wiesbadener Publikum umringt von Angehörigen der Mainzer Universität, deren Verwandten und Freunden. Auch Universitätspräsident Prof. Dr. Georg Krausch ist da und spricht ein kurzes Gruß- und Dankeswort. Leiter des Collegium Musicum ist Felix Koch. Trotz seiner künstlerischen und wissenschaftlichen Profilierung als Professor für Alte Musik und Konzertpädagogik an der Mainzer Musikhochschule setzt er in seiner Funktion als Musikdirektor der Universität auf stilistische Breite im Repertoire, wovon auch etliche CD-Aufnahmen zeugen.

Universitätsintern genießt das Collegium Musicum hohe Wertschätzung. Für die Mitwirkenden gibt es eine von der Universität unterstützte Chor- und Orchesterakademie mit 50 Plätze für instrumentalen und vokalen Einzelunterricht und Kammermusik. Die Akademie wird von Lehrbeauftragten bestritten, die zumeist auch als Stimmführer im Orchester fungieren. So hat auch der musikalische Amateur die Chance auf gezielte Förderung seiner eigenen Fähigkeiten – auch im Hinblick auf das gespielte Repertoire. „Mainz ist wirklich eine musizierende Universität – auch im Unterschied zu anderen Städten,“ charakterisierte Felix Koch vor einer Weile die günstige Konstellation: „Für manche Studienbewerber gibt diese Möglichkeit sogar den Ausschlag, gerade hier das Studium aufzunehmen. Die Universitätsleitung hat glücklicherweise ein Bewusstsein dafür, dass das gemeinsame Musizieren das Arbeitsklima und den Zusammenhalt fördert. Die Leute sind glücklicher. Musik schafft einen Freiraum, in dem man sich ganz unbefangen, aber durchaus ernsthaft mit anderen Dingen beschäftigen kann als mit seinen Alltagssorgen.“ Dass die Mainzer Musikhochschule in die Universität integriert ist, bietet dabei besondere Möglichkeiten der Vernetzung. Ein wichtiges Beispiel dafür ist das 2016 gemeinsam mit der Gesangsabteilung der Hochschule etablierte Gutenberg-Stipendium, das sich landesweit an fortgeschrittene Gesangsstudierende richtet, die Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Sinfonieorchester und sinfonischem Chor machen möchten. Für „Paulus“ erhielten dieses Stipendium die Sopranistin Heejoo Kwon (Musikhochschule Nürnberg), der Tenor Ferdinand Keller (Hochschule für Musik Hanns Eisler, Berlin) und der Bass Simon Amend (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Stuttgart).

 

An diesem Abend in der Lutherkirche lässt schon die Ouvertüre aufhorchen. Mendelssohn hat sie auf den alten protestantischen Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ gegründet, und ihm gelingen dabei gleich zwei kompositorische Kunststücke: Es ist nicht die einschüchternde Majestät der Blechbläser, sondern die einladenden Wärme der Holzbläser, die diesen Weckruf trägt. Und gleichzeitig wird dieser bekenntnishafte Weckruf auch musikalisch einer dramatischen Entwicklung unterzogen, die auf die erzählte Handlung vorausweist und Interesse weckt für das, was kommt.

Das Orchester spielt nicht nur mit professioneller Präzision  und einwandfreier Intonation, sondern auch mit beachtlichem Gespür für den Grundton dieser Musik und ihre inneren Spannungsbögen. Kaum ist die Ouvertüre verklungen, blendet sich der Chor organisch ein und zeigt sich ebensogut vorbereitet. Felix Koch am Pult beweist ein eminentes Gefühl für den dramaturgischen Gesamtablauf; hier stehen nicht isolierte musikalische Nummern nebeneinander, sondern eine fügt sich in die nächste, so dass trotz aller lyrischen Ruhepunkte die Spannung nicht nachlässt, und die Klangbalance wirkt ausgesprochen gut durchgehört..

 

Und so erleben wir zuerst  die Steinigung des Märtyrers Stephanus, der der Christenverfolger Saulus beifällig zusieht, dann das berühmte Damaskus-Erlebnis des Saulus. Durch die Vision des auferstandenen Jesus von Nazareth wird „Saulus zum Paulus“. Am Ende seiner Missionstätigkeit steht der Abschied von der Gemeinde in Ephesus nach Rom, wo ihn selbst Tod und Verfolgung erwarten. Wie hier ein Verfolger die Seite wechselt und am Ende selbst zum Opfer wird, entpuppt sich  als eine spannende Erzählung auch über das christliche Bekenntnis hinaus. Scharf und präzise lässt Koch die Chöre der wütenden Volksmassen artikulieren, wie sie Mendelssohn komponiert hat. (Besonders eindrücklich das fast zischelnde Pianissimo des Chors „Ist das nicht, der zu Jerusalem verstörte“.) Aber er zeigt dann genauso den Grundton des Gottvertrauens und der Wärme, mit denen Mendelssohns Partitur auf diese Szenen antwortet. Frank Wittmers interessanter Programmheft-Aufsatz zitiert George Bernard Shaws kritische Bemerkungen über die „Sonntagsschul-Sentimentalitäten“ und „nazarenerhafte Milde“ des Paulus. Aber aus heutiger Sicht, in dieser Aufführung, wird einem durchaus klar, welche Leistung es ist, Hass nicht mit Hass zu beantworten und Gewalt nicht mit Gegengewalt. Und nachdem Paulus geblendet zu Boden stürzt, spricht die Jesus-Vision als sanfter vierstimmiger Frauen-Chor in fis-moll zu ihm. Der als Kind getaufte Jude Mendelssohn hat das Neue Testament allem Augen- und Ohrenschein nach genauer gelesen als viele seiner christlichen Glaubensgenossen bis zum heutigen Tag.

 

Dass Luther-Kantor Jörg Endebrock an der Orgel mitwirkt und mit seinem Instrument an der einen oder anderen Stelle klangliche Akzente setzt, bereichert die Aufführung und ist ein erfreundliches Zeichen stromübergreifender Gastfreundschaft. Bei den Solisten erfreut Heejoo Kwon durch ihre klare und tragende Stimme, lässt aber die nötige deutliche Text-Artikulation und das Gespür für die inhaltliche Botschaft vermissen. Dass der große Schlusschor nicht mehr ganz die zuvor etablierte  Spannung und Tragkraft zu halten vermag, dürfte nicht nur an den starken Anforderungen einer Aufführung ohne Pause liegen, sondern auch daran, dass die Sopranistin ihm das Stichwort so undeutlich liefert. Auch hier beeindruckend immer noch die Leichtigkeit der Chorstimmen in der Höhe und ihr harmonischer Zusammenklang. Ferdinand Keller und Simon Abend wirken in ihren Solopartien anfangs etwas angestrengt, wachsen aber zunehmend in ihre Partien hinein und tragen die Aufführung durch ausdrucksvolle Rezitativen, Arien und zwei wunderschöne Männerduette (für Paulus und Barnabas). Ansprechend ergänzt wird das Solistenensemble durch die Mainzer Gesangs-Absolventin Jina Oh im Alt und die beiden Chor-Bassisten Matthias Hagenah und Samuel Kirsch. Darüber hinaus verzeichnet das Programmheft sämtliche Mitwirkenden – ein nicht selbstverständlicher Akt der Anerkennung!

Andreas Hauff

 

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