Klanggewalt und Feinsinn
Ein unvergesslicher Konzertabend mit Anne-Sophie Mutter und Manfred Honeck
Copyright: Ansgar Kostermann
Das Rheingau Musik Festival, das jedes Jahr die Crème de la Crème der klassischen Musikszene nach Hessen bringt, übertraf sich an diesem Abend erneut selbst. Im majestätischen Ambiente des Wiesbadener Kurhauses fand am 6. September ein Konzert statt, das seinesgleichen sucht. Mit dem renommierten Pittsburgh Symphony Orchestra unter der Leitung von Manfred Honeck und der unvergleichlichen Anne-Sophie Mutter als Solistin stand ein Abend auf dem Programm, der den Atem der Zuhörer innehalten ließ. Die Verbindung aus John Adams‘ energiegeladenem „Short Ride in a Fast Machine“, Mendelssohn Bartholdys lyrischem e-moll Violinkonzert und Gustav Mahlers herrlicher erster Sinfonie versprach von Anfang an ein musikalisches Erlebnis der Extraklasse – und lieferte weit mehr, als zu erwarten war.
Der Konzertabend begann fulminant mit John Adams‘ „Short Ride in a Fast Machine“. Dieses kurze, aber intensive Werk ist eine Art rhythmischer Rausch, der den Zuhörer sofort in Aufmerksamkeit versetzt. Es beginnt mit einer sich unaufhaltsam wiederholenden Holzschlagwerk-Figur, die als Herzschlag der gesamten Komposition fungiert. Das Stück ließe sich als eine hochdynamische Fahrt in einem Sportwagen beschreiben – und genau dieses Gefühl vermittelten Honeck und das Pittsburgh Symphony Orchestra von der ersten Sekunde an. Die hohe rhythmische Präzision des Orchesters, insbesondere im Zusammenspiel der Blechbläser mit den Schlaginstrumenten, erzeugte eine körperlich spürbare Spannung. Jeder einzelne Musiker zeigte eine bemerkenswerte Kontrolle und Virtuosität, sodass die feinen rhythmischen Schichten und die zahllosen kleinen Nuancen klar herausgearbeitet wurden. Die scheinbare Raserei des Werks wurde durch das gestochen scharfe Dirigat Honecks perfekt balanciert. Er verstand es, dem Orchester trotz des fast überbordenden Tempos und der unaufhaltsamen Energie eine Struktur zu verleihen, die dem Publikum half, die schillernden Farben des Werks zu erfassen. Es war eine Darbietung, die mitreißend war, aber gleichzeitig durch ihre Präzision und musikalische Klarheit verblüffte. Es war, als ob das Orchester und Honeck das schier Unmögliche möglich machten: Raserei und Perfektion in Einklang zu bringen.
Copyright: Ansgar Klostermann
Dann folgte das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy, in dessen Mittelpunkt die brillante Anne-Sophie Mutter stand. Ihr Auftritt war ein Lehrstück für musikalische Souveränität und Ausdruckskraft. Schon in den ersten Takten offenbarte sich das, was die darauffolgenden Minuten prägen sollte: Mutters unvergleichliche Fähigkeit, Virtuosität mit tiefem emotionalem Ausdruck zu verbinden. Ihre Interpretation war technisch makellos, aber es war ihre musikalische Eigenwilligkeit, die dieses Konzert so besonders machte. Das Pittsburgh Symphony Orchestra, das unter Honecks präziser Leitung begleitete, musste mitunter regelrecht kämpfen, um Mutters fast halsbrecherischem Tempo zu folgen. Diese Herausforderung verlieh der Aufführung jedoch eine zusätzliche Spannung – es war, als ob jeder Moment in der Schwebe lag, immer auf dem Grat zwischen voller Entfaltung und schwindelerregender Intensität.
Besonders eindrücklich war ihre differenzierte Gestaltung der Klangfarben. Mit ihrer Stradivari „Lord Dunn-Raven“ aus dem Jahr 1710 schuf Mutter eine breite Palette an Nuancen – vom beinahe vibratolosen, fahlen Klang bis hin zu reich ornamentierten, sanglichen Linien. Dies wurde besonders im berühmten Andante deutlich, das sie mit einer Intensität und Zärtlichkeit spielte, die das Publikum spürbar berührte. In dieser musikalischen Zwiesprache zwischen Violine und Orchester war jeder Ton wie ein Atemzug, der das Kurhaus mit einer intimen, fast zerbrechlichen Schönheit erfüllte. Hier wurde der Dialog zwischen Solistin und Orchester auf eine ganz neue Ebene gehoben. Mutter und Honeck interagierten nicht nur musikalisch, sondern schienen förmlich miteinander zu sprechen – ein Wechselspiel, das von gegenseitigem Vertrauen und tiefem Verständnis geprägt war.
Im Finale des Konzerts brillierte Mutter mit einer Schnelligkeit und Präzision, die staunen ließ. Die schnellen Läufe und die Doppelgriffe waren nicht nur technisch perfekt, sondern auch von einer Leichtigkeit und Eleganz, die mühelos wirkten. Und doch spürte man in jedem Moment die immense Konzentration und Kontrolle, die hinter dieser scheinbaren Mühelosigkeit lag. Die Dynamik des Orchesters, die Honeck meisterhaft ausbalancierte, unterstützte Mutter in ihren emotionalen Bögen und sorgte dafür, dass das Violinkonzert in einem strahlenden und packenden Abschluss gipfelte.
Das Publikum war zu diesem Zeitpunkt bereits in Hochstimmung, und die stehenden Huldigungen führten zu einer sehr emotionalen Zugabe. Mit John Williams‘ Musik aus dem Film „Schindlers Liste“ setzte Mutter einen zutiefst bewegenden Schlusspunkt. Ihre Interpretation der ergreifenden Melodie war von solch einer emotionalen Intensität, dass der gesamte Saal von einer intensiven Stille erfüllt war. Jeder Ton ihrer Geige schien von einer tiefen inneren Trauer getragen, und doch schimmerte in der Melancholie eine leise Hoffnung auf – ein Moment von erhabener Schönheit, der die Herzen des Publikums berührte.
Der absolute Höhepunkt des Abends war jedoch Gustav Mahlers monumentale Sinfonie Nr. 1, die Manfred Honeck und das Pittsburgh Symphony Orchestra zu einem unvergleichlichen Erlebnis machten. Schon in den ersten Takten spürte man Honecks tiefes Verständnis für dieses Werk. Der Beginn, mit seinen düsteren, fast mystisch anmutenden Klangflächen, wurde von Honeck und seinem Orchester mit einer feinen Balance aus Ruhe und Anspannung gestaltet. Hier zeigte sich Honecks untrügliches Gespür für den großen Bogen und die feinen Details gleichermaßen. Der erste Satz, eine Ode an die Natur, entfaltete sich wie ein lebendiges Klanggemälde. Die Vogelstimmen und Naturlaute, die Mahler in die Partitur einwob, wurden von Honeck in all ihrer Farbenpracht zum Leben erweckt. Magische Momente schufen die Trompetenklänge aus weiter Ferne. Die delikaten Übergänge und fein abgestuften Rubati ließen das Orchester wie ein atmendes Wesen wirken. Honeck gelang es, die frische, jugendliche Unbekümmertheit des jungen Mahler einzufangen, während er gleichzeitig die darunterliegende Sehnsucht und den drängenden Lebenswillen deutlich werden ließ.
Im zweiten Satz wurde das Publikum in eine völlig andere Klangwelt entführt: ein rustikaler, derb-bäuerlicher Tanz, der von Honeck mit einer fast eruptiven Energie und extremen Akzenten gestaltet wurde. Die dynamischen Wechsel waren so pointiert, dass man den Eindruck hatte, mitten auf einem Dorffest zu sein. Es war eine Feier der klanglichen Extreme, bei dem das Orchester eine überwältigende Spielfreude ausstrahlte.
Der dritte Satz, eine tief melancholische Trauermusik, zeigte Honeck von einer anderen Seite. Hier ließ er die Musik fast schweben, die düstere Elegie von Kontrabass und Holzbläsern wurde mit einem feinen, wehmütigen Klang gezeichnet. Besonders das Kontrabass-Solo war von einer geradezu sprechenden Zartheit, die das Publikum in eine beinahe andächtige Stille versetzte.
Der vierte Satz schließlich brach wie ein Sturm über das Publikum herein. Die sieghaft strahlenden Blechbläser, die das orchestrale Gewitter entfachten, wurden von einem prasselnden Schlagzeug begleitet, das die gewaltigen Klangwellen noch verstärkte. Honeck dirigierte mit energischen, präzisen Bewegungen und schuf ein klangliches Panorama von atemberaubender Wucht. Der Triumph des Schlusses, in dem alle Instrumentengruppen zu einer strahlenden Apotheose verschmolzen, ließ keinen Zweifel daran, dass Honeck zu den großen Mahler-Interpreten unserer Zeit gehört. Manfred Honeck hat sich mit seinem tiefen Verständnis für Gustav Mahlers Musik an die Spitze der internationalen Dirigentenszene katapultiert. Kein anderer Dirigent der Gegenwart scheint Mahlers Werk so intuitiv zu erfassen und in seiner ganzen emotionalen und strukturellen Komplexität zu gestalten wie er. Honeck interpretiert Mahler nicht nur – er lebt ihn. In jedem Takt, in jedem Übergang spürt man, wie eng Honeck mit dieser Musik verbunden ist, als wäre sie Teil seines eigenen Wesens. Seine Fähigkeit, den inneren Kern von Mahlers Partituren zu durchdringen und die gegensätzlichen Emotionen – die Verzweiflung, die Sehnsucht, den Triumph – in eine schlüssige, dramatische Erzählung zu gießen, ist beispiellos.
An diesem Abend im Kurhaus Wiesbaden zeigte sich dies in Vollendung: Vom zarten Flüstern der Vogelstimmen im ersten Satz bis zum tosenden Finale der Sinfonie führte Honeck das Pittsburgh Symphony Orchestra mit einer Klarheit und Präzision, die das Publikum in eine transzendentale Klangwelt entführte. Er schuf nicht nur Klangräume, sondern ganze Landschaften von Gefühlen, die sich vor den Ohren der Zuhörer entfalteten. Seine emotionale Durchdringung der Partitur ließ keinen Zweifel daran, dass Honeck die musikalische DNA Mahlers wie kein anderer Dirigent unserer Zeit versteht. Diese Tiefe der Interpretation, gepaart mit seinem unfehlbaren Gespür für Tempo, Dynamik und Balance, macht Honeck zweifellos zum führenden Mahler-Dirigenten des 21. Jahrhunderts.
Doch ebenso beeindruckend wie Honeck war das Pittsburgh Symphony Orchestra selbst. Mit seinem edlen, warmen Klang begeisterte es das Publikum an jedem einzelnen Pult. Die Streicher entfalteten einen intensiven, tiefen Klang, der durch enorme Vielschichtigkeit beeindruckte. Die Holzbläser glänzten mit feinsten Nuancen, während das Blech phänomenal und strahlend den Raum erfüllte. Das Schlagzeug agierte kompakt und präzise, immer perfekt eingebunden in das orchestrale Geschehen. Jeder Solobeitrag bewies die herausragende Virtuosität der Musiker. Ihre Fähigkeit, sich hingebungsvoll auf Honecks Interpretation einzulassen und gleichzeitig solistisch Akzente zu setzen, zeigte, dass hier eine musikalische Elite auf höchstem Niveau agierte.
Das Publikum war am Ende überwältigt und katapultierte sich mit stehendem Applaus aus den Sitzen. Als Zugaben folgten die beruhigende „Morgenstimmung“ von Edvard Grieg und ein schmissiger Walzer aus Richard Strauss’ „Rosenkavalier“, die den Abend in beschwingter Leichtigkeit ausklingen ließen.
Der Konzertabend im Wiesbadener Kurhaus wird zweifellos als einer der großen Höhepunkte des Rheingau Musik Festivals in Erinnerung bleiben. Anne-Sophie Mutter und Manfred Honeck präsentierten sich auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Meisterschaft. Mit einem Programm, das das Publikum von atemloser Spannung bis zu tiefster emotionaler Berührung führte, schufen sie gemeinsam mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra einen Abend, der in seiner musikalischen Dichte und Präzision unvergesslich bleibt. Die Symbiose zwischen Solistin, Orchester und Dirigent führte zu einem außergewöhnlichen Erlebnis, das das Publikum noch lange begleiten wird. Stehender, anhaltender Applaus bewiesen einmal mehr, dass das Rheingau Musik Festival auch in dieser Saison wieder neue Maßstäbe gesetzt hat.
Dirk Schauß, 07. September 2024
Besuchtes Konzert in Wiesbaden, Friedrich-von-Thiersch-Saal, Kurhaus Wiesbaden, am 06. September 2024
John Adams „Short Ride in a Fast Machine“
Felix Mendelssohn Violinkonzert e-moll Op. 64
Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 1 D-Dur „Der Titan“
Anne-Sophie Mutter Violine
Pittsburgh Symphony Orchestra
Manfred Honeck Leitung
Fotos: Copyright by Ansgar Klostermann