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WIESBADEN/ Kurhaus: Hessisches Staatsorchester Wiesbaden Leo McFall, musikalische Leitung (Ives, Bray, Smetana)

24.10.2024 | Konzert/Liederabende

WIESBADEN/ Kurhaus: Hessisches Staatsorchester Wiesbaden Leo McFall, musikalische Leitung. 23.10.2024

Ein orchestrales Crescendo – Leo McFalls Debüt als Generalmusikdirektor in Wiesbaden

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Leo McFall. Copyright: Thomas Schrott

Mit Erwartung sah das Wiesbadener Publikum dem Debütkonzert des neuen Generalmusikdirektors Leo McFall entgegen, und der Rahmen im prachtvollen Kurhaus bot dafür die ideale Kulisse. Für sein erstes Sinfoniekonzert mit dem Hessischen Staatsorchester hatte McFall ein ungewöhnlich aufgebautes Programm gewählt, das vom avantgardistischen Klang der Moderne bis hin zur tschechischen Romantik ein breit gefächertes Spektrum umfasste. Mit den drei Werken von Charles Ives, Charlotte Bray und Bedřich Smetana, die den Abend strukturierten, gelang ihm ein eindrucksvolles und in seiner Dramaturgie durchdachtes Konzert.

Den Auftakt bildete Charles Ives‘ geheimnisvolle Komposition „The Unanswered Question“. Das Werk stellt die philosophische Frage nach dem Sinn der Existenz in den Raum, wobei verschiedene Instrumentengruppen – Streicher, Flöten und Trompete (an unterschiedlichen Stellen im Kurhaus positioniert) – sich in ihren Rollen nahezu unverbunden gegenüberstehen. Die Streicher, die als „Druiden der Stille“ eine sphärische Ruhe in fortlaufenden Dur-Klängen vermitteln, bilden den meditativen Klangteppich, über dem die Trompete die „ewige Frage“ artikuliert. Die Flöten hingegen antworten nervös, fast hektisch, und scheitern dabei, eine schlüssige Antwort zu liefern.

Das Hessische Staatsorchester zeigte in Ives‘ Werk eine bemerkenswerte Klangdisziplin. Die sanft tönenden Streicher unter McFalls präziser Leitung schufen einen schwebenden, fast zeitlosen Hintergrund, der die existenzielle Ungewissheit spürbar machte. Besonders hervorzuheben ist die Trompetensolostimme, die mit klarer Intonation Ives‘ zentrale Frage eindringlich in den Raum stellte, während die Flöten die vergebliche Suche nach einer Antwort musikalisch kontrastierend in Szene setzten.

Mit der deutschen Erstaufführung von Charlotte Brays „Germinate“ betrat das Konzert eine Sphäre zeitgenössischer Musik. Das Werk, inspiriert von Ludwig van Beethovens Tripel-Konzert, baut sich aus einer anfänglichen Keimzelle heraus auf und entfaltet sich in komplexen Dialogen zwischen einem Klaviertrio und dem Orchester. Brays Komposition, die 2019 uraufgeführt wurde, verbindet Kammermusik mit fortwährenden Dissonanzen aus dem Orchester. Anstrengende Minuten für das Publikum und die Ausführenden.

Die Solisten Alexander Bartha (Violine), Johann Ludwig (Violoncello) und Kai Adomeit (Klavier) zeigten eine exzellente Leistung und harmonierten in ihrem Zusammenspiel tadellos. Besonders der Dialog zwischen dem Trio und dem Orchester war eine ausgewogene Sache. Bartha und Ludwig musizierten intensivc, während Adomeits kraftvolles Klavierspiel die Strukturen der Komposition mit dynamischer Prägnanz untermalte. McFall führte das Orchester souverän durch die komplexe Partitur und bewahrte auch in den dichtesten Passagen die Übersicht. Kurzer Beifall bedankte den Vortrag und die anwesende Komponistin.

Der zweite Teil des Abends war dem tschechischen Nationalkomponisten Bedřich Smetana und seinem epischen Werk „Má vlast“ gewidmet. Anlässlich seines 200. Geburtstags führte McFall alle sechs symphonischen Dichtungen auf, was eher selten in einem Konzert zu erleben ist. Das Werk schildert die Geschichte, Natur und Legenden des tschechischen Vaterlandes und führt die Zuhörer musikalisch entlang der Moldau, durch Landschaften und historische Schlachten, die das tschechische Bewusstsein prägten. Der Vortrag des Hessischen Staatsorchesters unter Leo McFall war beeindruckend, und jeder Teil erhielt seine eigene individuelle Farbgebung.

Das Werk beginnt mit „Vyšehrad“, einer musikalischen Hommage an die sagenumwobene Festung Vyšehrad in Prag, die auf einem Hügel über der Moldau thront. Smetana beschreibt den Glanz und die Vergangenheit dieser Festung in majestätischen und ehrfurchtgebietenden Klängen, vor allem durch das markante Harfenthema, das den Eingang prägt. Die Aufführung des Hessischen Staatsorchesters ließ dieses Eröffnungsthema leuchtend und heroisch erklingen, bevor die Musik ins Dramatische und Dunkle abtauchte, was den Untergang der Festung symbolisierte. Die Harfen und Streicher unter McFalls Leitung vermittelten eine prägnante Balance zwischen Eleganz und Melancholie, während die Blechbläser mit strahlender Klarheit die Fanfaren des einstigen Ruhms aufleben ließen. Einzig die hier so wichtigen Becken durften sich nicht, wie gefordert, deutlicher in den Vordergrund stellen.

„Die Moldau“ ist zweifellos der bekannteste Teil des Zyklus und beschreibt den Verlauf des Flusses von seiner Quelle bis zur Mündung. Die Musik fließt gleichsam mit dem Wasser der Moldau dahin, während malerische Landschaften vor dem inneren Auge des Zuhörers entstehen. McFall führte das Orchester allzu flott durch die sanfte Eröffnung der Flöten und Klarinetten, die die Quelle symbolisierten. Die Streicher nahmen dieses Motiv eher beiläufig auf und entwickelten es zu einem majestätischen Strom, der über das gesamte Orchester hinweg wogte. Besonders hervorzuheben ist die feinsinnige Phrasierung der Streicher, die den Flusslauf mal ruhig, mal dynamisch und voller Bewegung darstellten. Die klangliche Transparenz des Orchesters erlaubte es, die Details der Partitur mühelos zu verfolgen. Bei den stürmischen Stromschnellen wurde das Orchester streng im Zaum gehalten, sodass die großen Schlagzeugeffekte leider nicht die deutlichen Glanzpunkte setzen durften.

Die dritte Dichtung, „Šárka“, beruht auf der Legende der rachsüchtigen Kriegerin Šárka, die ihre männlichen Feinde in eine Falle lockt. Das Hessische Staatsorchester setzte diese dramatische Geschichte mit großer Intensität um. McFall brachte die dynamischen Wechsel geschickt zur Geltung – von den lyrischen, betörenden Momenten, in denen Šárka ihre Männer in Sicherheit wiegt, bis hin zu den eruptiven, brutalen Passagen der Rache. Besonders die Blechbläser und Schlagzeuger trugen maßgeblich dazu bei, das martialische Finale effektvoll zu gestalten, ohne dass die Balance zwischen den einzelnen Instrumentengruppen verloren ging. Dennoch fiel auch hier im Finale auf, dass McFall das Orchester allzu streng in der Dynamik begrenzte. Das vorgegebene Gemetzel blieb somit mehr Andeutung als konkret ausformuliert.

Nach den dramatischen Ereignissen von „Šárka“ bietet „Aus Böhmens Hain und Flur“ eine musikalische Rückkehr zur idyllischen Landschaft. Hier breitet Smetana die Schönheit der böhmischen Natur aus, und das Hessische Staatsorchester unter McFall nahm diesen Wechsel in der Stimmung mit sanfter Zärtlichkeit auf. Besonders die Holzbläser zeichneten die Naturbilder intensiv und farbenreich, während die Streicher eine weich, geschmeidige Grundlage bildeten. McFall ließ sich Zeit, die Melodien blühen zu lassen und gestaltete den Satz mit einem anmutigen, fast tänzerischen Schwung. Das Ergebnis war eine Interpretation, die von Wärme und Ausdruckstiefe geprägt war.

In „Tábor“ wendet sich Smetana der Geschichte der Hussiten zu und thematisiert ihre religiösen Kämpfe und ihren unerschütterlichen Glauben. Die Komposition basiert auf einem Hussitenchoral, der sich zunehmend kraftvoll entwickelt. McFall führte das Orchester durch dieses monumentale Werk mit sicherer Hand und Gespür für die sich steigernde Dramatik. Besonders die Blechbläser brillierten in ihrer erhabenen Darbietung des Chorals, der im Laufe des Stückes immer stärker und machtvoller hervortritt. Die Wucht und Entschlossenheit, die das Orchester unter McFalls Leitung in diesen Teil legte, verlieh dem Werk Klangfülle, die den heroischen Charakter der Hussitenbewegung eindrucksvoll einfing.

Der letzte Teil, „Blaník“, knüpft thematisch an „Tábor“ an und beschreibt die Legende der im Berg Blaník schlafenden Hussiten, die eines Tages erwachen und das Vaterland retten werden. Der musikalische Bezug zu „Tábor“ ist unverkennbar, doch endet dieser Teil hoffnungsvoller und triumphaler. McFall gelang es, die finale Apotheose klug zu gestalten. Das Orchester spielte mit großer Leidenschaft und vereinte den Choral aus „Tábor“ mit einem strahlenden, optimistischen Finale. Die Streicher und Bläser entfalteten eine gewaltige Klangpracht, die den Abschluss des Zyklus zu einem Höhepunkt des Abends werden ließ. McFall hielt den Spannungsbogen bis zur letzten Note hin aufrecht, sodass die Aufführung von „Blaník“ mit einem mächtigen und mitreißenden Finale endete.

Leo McFall bewies mit seiner Interpretation von Smetanas „Má vlast“, dass er ein Dirigent von Feingefühl und dramatischem Gespür ist. Die komplexe Struktur des Werkes meisterte er mit klarer Zeichengebung und einem Verständnis für die emotionalen, nationalen Untertöne der Musik. Es gelang ihm, die Spannungen und Stimmungen der einzelnen Dichtungen differenziert zu gestalten, ohne den Gesamtzusammenhang aus den Augen zu verlieren. Klangkultur und Ausgewogenheit in der Beachtung der Haupt- und Nebenstimmen waren maßgeblich für sein Dirigat. Ein wenig blieb dabei die Spontanität, der Mut zum Risiko auf der Strecke. Die großen prachtvollen Stellen hat Smetana dem viel geforderten Schlagzeug zugedacht, was an diesem Abend nicht wirklich aus sich herausgehen durfte. Sehr bedauerlich, da somit wichtige Klangintensitäten verschenkt wurden und auch zu brav wirkten, wie etwa in den Finali der „Moldau“ und „Šárka“.

Es war vor allem der Abend des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden! Denn die Gesamtleistung war bemerkenswert. Die große Streichergruppe musizierte mit feinem Klangsinn und der notwendigen Fülle. Großartig waren die Holzbläser mit intensiven Farbpaletten. Ausdauernd und edel erklangen Hörnerschall und die übrigen Blechbläser. Differenziert, wenn auch an zu kurzer Leine geführt, war die sehr aufmerksame Gruppe der präzisen Schlagzeuger zu vernehmen. Das Orchester folgte höchst aufmerksam seinem neuen musikalischen Leiter und spielte in großer Geschlossenheit. Das Publikum zeigte sich begeistert.

Dirk Schauß, 24. Oktober 2024

 

Besuchtes Konzert am 23. Oktober im Kurhaus Wiesbaden

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Leo McFall, musikalische Leitung

Foto: Leo McFall, Copyright by Thomas Schrott

 

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