Erhebung und Erlösung: Yoel Gamzou dirigierte Mahlers 2. Sinfonie bei den Maifestspielen
Yoel Gamzou – Copyright by Christian Debus
Ein archaischer Torso entlockte einst dem Dichter Rainer Maria Rilke den Ausruf „Du musst dein Leben ändern“. Ähnlich transformative Kräfte entfaltet Gustav Mahlers 2. Sinfonie, oft als „Auferstehungssinfonie“ bezeichnet. Dieses Werk hat das Potenzial, Leben zu verändern. Die bewegende Geschichte des New Yorker Unternehmers Gilbert Kaplan, der unbedingt Mahlers Werk dirigieren wollte und dies auch tat, zeigt, wie tiefgehend Mahlers Werk die menschliche Seele berührt. Mahler dringt tief in den Seelenhaushalt der Menschen ein, von der aufwühlenden Totenfeier des ersten Satzes über das „Urlicht“ des vierten Satzes bis zu den monumentalen Auferstehungsklängen des Finales.
Unter der mitreißenden Leitung des Dirigenten Yoel Gamzou entfaltete sich Mahlers monumentales Werk im Kurhaus Wiesbaden (Internationale Maifestspiele 2024) in seiner ganzen Pracht und allen Extremen, wie es in dieser Form einzigartig sein dürfte! Gamzous Interpretation zeichnete sich durch eine seltene Mischung aus Feinfühligkeit, tosender Kraft und äußerst freier Tempogestaltung aus. Seine Risikofreude und seine intensive Analyse der Partitur bescherte dem Publikum im ausverkauften Wiesbadener Kurhaus einen unvergesslichen Konzertabend.
Der erste Satz, „Allegro maestoso. Mit durchaus ernstem und feierlichem Ausdruck“, nimmt eine exponierte Stellung in der Sinfonie ein. Die sogenannte „Totenfeier“ ist der erste der beiden monumentalen Rahmensätze. Gamzou begann diesen Satz mit fesselnder Intensität, die den Zuhörer sofort in ihren Bann zog. Die Exposition startet mit einem tiefen Streicherakkord, aus dem sich eine unruhige Figur und ein markantes Motiv entwickeln. Diese Streicherfigur kehrt im Finalsatz wieder. Gamzou wartete, bis sich das Thema geradezu von selbst artikulierte. Auf diesem Klangteppich intonierten die Bläser das Hauptthema. Gamzou ließ die marschähnlichen Züge des Themas mit dramatischem Ernst aufblühen, während die Wiederholung der Exposition und der choralähnliche Marschgedanke markant hervorgehoben wurden. Die dynamische Spannung, die sich durch den Satz zog, mündete in einem gewaltigen Höhepunkt und endete in einer c-Moll-Coda, die die tiefe Erschütterung des Themas reflektierte. In den Tempi agierte Gamzou äußerst frei und wagte das große Risiko durch überraschende Accelerandi oder deutliche Ausbremsungen. Eines war überdeutlich: Dies ist kein Mahler für Kulinariker! Diese Interpreation ging unter die Haut, ans Eingemachte, sie schmerzte und glühte in einer Intensität, die beispiellos ist. Hier war zu erleben, was Mahler sich stets wünschte:„Die Musik hinter den Noten“!
Der zweite Satz, „Andante comodo. Sehr gemächlich. Nie eilen“, bot eine äußerst friedliche, idyllische Gegenwelt zum dramatischen ersten Satz. Gamzou ließ das traditionell und fast klassizistisch wirkende Menuettthema mit äußerst sanfter Hand entstehen, während die Streicher und Holzbläser eine spartanische Melodie formten, die an Beethoven erinnerte. Die dramatischere Wiederholung des ersten Trios, unterstützt von Blechbläsern und Pauke, führte zu einer dynamischen Steigerung, während das Menuettthema im Pizzicato der Streicher, unterstützt von der Harfe, für ein ungewohntes und faszinierendes Klangbild sorgte. Wunderbar arbeitete Gamzou das Dialogische zwischen den Streichern heraus. Ein Gespräch in Tönen, so lebendig, so echt und aus dem Moment heraus gestaltet. Ein unwiderstehlicher Zauber.
Der dritte Satz, „In ruhig fließender Bewegung“, verknüpft mit dem Lied „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ aus den Wunderhorn-Liedern, verließ den Rahmen des rein Instrumentalen nicht, blieb aber dem scherzohaften Prinzip treu. Gamzou gestaltete die fließende Bewegung des Satzes mit ruhiger Hand, indem er die markanten Motive der Streicher und Holzbläser mit markanten Schlaginstrumenteneinsätzen entfalten ließ. Das Trio, eine einfache, choralähnliche Melodie, vermittelte eine groteske Satire auf die Menschen, die Mahler humorvoll darstellte. Das Ende des Satzes war ein gewaltiger Aufruhr, der von sehr deutlichen Akzenten auf der großen Trommel zu Ende gebracht wurde. Auch in diesem Satz gab es viele ungehörte Details, die faszinierten, so waren die zahlreichen Routenhiebe vielfach variiert in ihrer Intensität, was diese Passagen besonders eindrücklich machte.
Im vierten Satz, „Urlicht – Sehr feierlich aber schlicht. Nicht schleppen“, betrat die Altistin Ketevan Kemoklidze die Bühne und versuchte, das „Urlicht“ der Hoffnung und Erlösung zu gestalten. Dieser Satz, ein Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“, markiert den ersten Einsatz der menschlichen Stimme in Mahlers sinfonischem Schaffen. Gamzou schuf eine ehrfürchtige, dabei schlichte Choralatmosphäre, die von den zarten Piano-Begleitakkorden der Streicher und dem majestätischen Klang der Blechbläser getragen wurde. Bedauerlicherweise blieb Ketevan Kemoklidzes Darbietung weit hinter den Erwartungen zurück. Ihre Interpretation der bedeutenden Verse „Der Mensch liegt in größter Not, der Mensch liegt in größter Pein“ war kaum zu verstehen und entbehrte der inhaltlichen Durchdringung. Die Worte, die in ihrer Klarheit und Ausdruckskraft die Essenz dieses Satzes ausmachen sollten, gingen in einer fast vollständig unverständlichen Artikulation und einer befremdlichen Vokalbildung verloren. Dieses Manko war besonders schmerzlich, da Gamzou und das feinfühlig agierende Orchester eine optimale klangliche Umgebung schufen. Die Engelsvision, dargestellt durch die leuchtenden Töne von Flöte, Harfe und Glockenspiel, war von ergreifender Schönheit durch das Orchester und trug das Publikum auf zarten Schwingen. Es war ein kontrastierendes Erlebnis, dass die musikalische Begleitung in ihrer Vollkommenheit die Schwächen der Sängerin noch deutlicher hervorhob.
Der fünfte und letzte Satz, „Im Tempo des Scherzos. Wild herausfahrend – Wieder zurückhaltend – Langsam. Misterioso“, begann mit einer stürmischen, „wild herausfahrenden“ Figur der tiefen Streicher, die unvermittelt in einem scharf dissonanten Tuttiakkord kulminierte. Gamzou dirigierte mit präziser Leidenschaft und führte das Publikum durch die dramatische Entwicklung des Satzes, in dem das Auferstehungsthema zunächst verhalten und vorsichtig intoniert wurde, nur um von einer majestätischen Hornfanfare abgelöst zu werden. Diese Fanfare trieb die Musik in einer drängenden Dynamik unaufhaltsam voran, während die perfekt abgestimmte Fernmusik aus dem Off die klangliche Landschaft vervollständigte und eine übernatürliche Dimension hinzufügte. Die allmähliche Spannungssteigerung mündete in einem erhabenen Choral der Blechbläser, der sich in feierlicher Größe entfaltete. In einem beeindruckenden musikalischen Lichtmoment durchbrach ein gewaltiges Schlagzeug-Crescendo die Stille und wälzte sich wie eine mächtige Klanglawine durch den Saal. Die dynamische Steigerung setzte sich mit den Fanfaren des „Letzten Appells“ fort, die aus verschiedenen Positionen im Saal erklangen. Mehrere Trompeten, perfekt intoniert und räumlich im Konzertsaal verteilt, schufen eine fesselnde und allumfassende Klangwirkung, die den gesamten Raum durchdrang. Der große Chor setzte sodann in einem behutsamen Pianissimo ein und beeindruckte durch seine klare Textverständlichkeit, als er das „Auferstehn“ anstimmte. Allmählich fügten sich die Solistinnen und die Blechbläser hinzu. Beate Ritter, der Solo-Sopran, präsentierte ihre Partie jedoch mit einer bedauerlich geringen Stimmgröße und nur mäßiger Textverständlichkeit, was dem Gesamtbild etwas von seiner möglichen Wirkung nahm. Trotz dieser Einschränkung führte die meisterhafte Führung durch Gamzou und das einfühlsame Zusammenspiel von Orchester, Chor und Orgel zu einer überwältigenden Apotheose des Auferstehungsthemas. Der finale Klangrausch, in dem sich alle musikalischen Kräfte vereinten, öffnete den musikalischen Himmel weit und nahm ein ergriffenes, dankbar jubelndes Publikum in Empfang. Sofort nach dem letzten, nachhallenden Akkord erhob sich das Publikum von seinen Plätzen und applaudierte stehend, zutiefst bewegt von diesem großartigen Abschluss.
Yoel Gamzou, dessen Leben und künstlerische Laufbahn untrennbar mit Gustav Mahlers Musik verbunden sind, erwies sich als ein brillanter und außergewöhnlicher Interpret dieser monumentalen Sinfonie. Schon früh in seiner Karriere zeigte Gamzou eine tiefe Affinität zu Mahlers Werk. Seine kreative Herangehensweise und sein tiefes Verständnis für Mahlers komplexe Klangwelten ermöglichten eine Interpretation, die das Publikum zutiefst berührte und beeindruckte. Gamzou ist ein Dirigent, der die Partituren stets neu befragt und interpretiert. Er nähert sich der Musik mit analytischer Präzision und emotionaler Intensität, die ihresgleichen sucht. Seine Fähigkeit, die feinsten Nuancen und subtilsten Details aus der Partitur herauszuarbeiten, ist außergewöhnlich. Dabei bleibt er stets respektvoll gegenüber den zahlreichen, detaillierten Anweisungen Mahlers und versteht es, diese in einen größeren interpretativen Kontext zu setzen. Was Gamzou besonders auszeichnet, ist seine bemerkenswerte Freiheit im Umgang mit der Partitur. Er bewegt sich mit einer souveränen Gelassenheit durch das Werk und scheut sich nicht, radikale Entscheidungen zu treffen, die Mahlers Intentionen eine neue, lebendige Dimension verleihen. Dabei gelingt es ihm, die Balance zwischen interpretativer Freiheit und respetkvoller Werktreue zu halten, was ihn zu einem einzigartigen Mahler-Interpreten macht. Seine Lesart der Sinfonie ist extrem, unbequem und polarisiert – sie verkörpert Gustav Mahler in seiner reinsten Form. Gamzou schafft es, die tiefsten Emotionen und komplexesten klanglichen Strukturen herauszuarbeiten. Seine besondere künstlerische Vision transformierten diesen Abend in ein unvergessliches Ereignis. Die Art und Weise, wie Gamzou das Orchester führte, zeugte von einer intensiven Probenarbeit und einem tiefen Verständnis für die individuelle und kollektive Musikalität seiner Musiker. Unter seiner Leitung erhoben sich die verschiedenen Instrumentengruppen zu einer vielstimmigen, aber harmonischen Einheit, die die Vielschichtigkeit und den Reichtum von Mahlers Komposition eindrucksvoll zur Geltung brachte. Die derzeitige Musikwelt kennt kaum einen Dirigenten, der Mahlers Musik mit einer derartigen Intensität und Originalität zu interpretieren vermag. Gamzou entlockte der Partitur die verborgensten Geheimnisse und offenbarte sie dem Publikum in all ihrer klanglichen Tiefe. Seine gestalterische Freiheit, gepaart mit einer tiefen Ehrfurcht vor der Partitur, macht ihn zu einem Dirigenten, der die Musik nicht nur aufführt, sondern sie neu erschafft und lebendig macht. Gamzous Darbietung ließ das Auditorium die gesamte emotionale und dramatische Kraft von Mahlers Musik in voller Intensität erleben, was den Abend zu einem musikalischen Hochgenuss machte, der noch lange nachklang.
Hervorzuheben sind die vereinten Stimmen der drei herausragenden Chöre, die unter der Leitung ihrer Dirigenten den Saal mit einer beeindruckenden Intensität und Klangfülle erfüllten. Der Chor der Stadt Wiesbaden, unter der Leitung von Jud Perry, der Chor der Marktkirche Wiesbaden, geleitet von Thomas J. Frank, und die Sänger des Wiesbadener Knabenchores, angeleitet von Roman Twardy, verschmolzen zu einem harmonischen Klangkörper. Die vereinte Darbietung dieser Chöre war von einer außergewöhnlichen Präzision und klanglichen Vielfalt bestimmt. Dabei war die Textverständlichkeit bemerkenswert gut. Die sorgfältige Abstimmung der Vokalharmonien, die akkurate Intonation und die dynamische Bandbreite der Chöre trugen maßgeblich zur Gesamtwirkung der Aufführung bei. Ihre Stimmen verschmolzen zu einem kraftvollen und doch nuancierten Klangteppich, der die orchestralen Klänge ergänzte und verstärkte. Die Leistungsfähigkeit und das Engagement der Chorsängerinnen und -sänger waren herausragend und trugen wesentlich zum Erfolg der Aufführung bei.
Ein besonderes Lob gebührt dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden, das an diesem Abend weit über sich hinausgewachsen ist. Unter Gamzous Leitung erwies sich das Orchester sowohl solistisch als auch im Zusammenspiel mit den Chören und Solisten als wahrer Höhepunkt des Abends. Die Musiker zeigten eine herausragende technische Versiertheit und musikalische Sensibilität, die wesentlich zum Erfolg dieses denkwürdigen Konzerts beitrugen. Die Streicher des Hessischen Staatsorchesters verliehen den lyrischen Passagen der Sinfonie eine zarte und zugleich kraftvolle Ausdruckskraft. Ihre präzise Artikulation und ihr warmes, nuanciertes Spiel schufen eine Atmosphäre von Wärme und Emotionalität, die das Publikum zutiefst berührte. Die Bläser des Orchesters ergänzten diese Darbietung mit ihrem charakteristischen Klang, der genau den Ausdruck einfing, den Mahler sich gewünscht hatte. Ihre einfühlsame Interpretation trug maßgeblich zur musikalischen Ausdruckskraft bei. Besonders beeindruckend war die Unterstützung des Orchesters durch die Fernmusik und die mystischen Chöre im Finalsatz. Mit großer Hingabe und Präzision schufen die Musiker eine klangliche Kulisse, die den Höhepunkt des Konzerts zu einem wahren Erlebnis machte. Es war bewundernswert zu sehen, wie sich der gesamte Klangkörper auf Gamzous künstlerische Vision einließ und mit Leidenschaft und Engagement jede Nuance der Musik zum Leben erweckte. Besonders hervorzuheben sind die Schlagzeuger des Orchesters, die mit ihrer mitreißenden Wucht und ihrer dynamischen Interpretation für besonders intensive Momente sorgten und die musikalische Dramatik betonten. In der Tat zählt dieser Vortrag zu den besten Darbietungen, die das Hessische Staatsorchester Wiesbaden in den letzten Jahren in seinen Konzerten präsentiert hat.
Das Konzert im Kurhaus Wiesbaden war ein tiefgehendes Ereignis, das dem Publikum die transformative Kraft von Mahlers Musik in eindrucksvollster Weise vor Augen führte. Es hinterließ einen aufwühlenden und tröstenden Eindruck auf alle, die an diesem Abend anwesend waren.
Dirk Schauß, 23. Mai 2024
Besuchtes Konzert im Kurhaus Wiesbaden am 22. Mai 2024
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 2 c-moll
Yoel Gamzou, Leitung