Wiesbaden: „FIDELIO“ – Premiere 16.10.2022
In der Inszenierung von Evelyn Herlitzius: der Bühnenhintergrund im 1.Akt mit den gefangenen Chorsängern, zu denen Marzelline (Anastasiva Taratorkina) aufblickt. Foto: Lena Obst
Das Hessische Staatstheater unter der Leitung von Uwe Eric Lauffenberg zeichnet sich seit langem durch vortreffliche Inszenierungen aus, die modischen Erwartungen einzelner Kritiker nicht zusagen mögen, weil sie die Werke nicht komplett verunstalten, nur um damit auf der aktuellen, multimedialen Sensationspalette zu landen. Aber ich habe in den letzten Jahren in diesem Theater noch keine Opernvorstellung erlebt, die nicht auf ästhetische Art Neues aus jedem Werk herausgelesen hat, ohne die Essenz des Komponisten und Librettisten zu zerstören. Diesmal war es das Engagement einer bedeutenden Sängerin, Evelyn Herlitzius, die in Jahrzehnten alle hochdramatischen Sopranrollen, incl. der Leonore, optimal gestaltet hat, der Lauffenberg nun als ihre erste Regiearbeit den „Fidelio“ anvertraute.
Es gab großen Jubel am Ende, nicht eine einzige hörbare Missfallenskundgebung, und da ich als „Merkerin“ auch der Premierenfeier mit den Sängern beiwohnen durfte, hörte ich von diesen ebenfalls keine negativen Äußerungen. Im Gegenteil – alle fanden, dass Kollegin Herlitzius ihnen in allen Aktionsvorschlägen entgegenkam, eigene Wünsche jedes und jeder einzelnen akzeptierte und – aus langjähriger eigener Erfahrung auf Textdeutlichkeit und gute Positionen achtete.
Wie auch in den Mozart-, Verdi- und Wagnerproduktionen, die ich in letzter Zeit in Wiesbaden besuchen konnte, gab es heutige Kostüme, die der Glaubwürdigkeit der einzelnen Personen aber keinen Abbruch taten. Und in der Titelrolle kann ich mich nicht erinnern, je eine so männlich ausgestattete Leonore gesehen zu haben, die zwar mit ihrer Frauenstimme ebenso lyrisch wie hochdramatisch sang, aber von der in „den“ Fidelio verliebten Backfisch- Marzelline nicht als weiblich wahrgenommen wurde.
Originell ist auch die Idee, im Hintergrund der Bühne auf mehreren Etagen leicht verschleiert ausschließlich Gefängniszellen zu zeigen, in denen sich je ein Gefangener, größtenteils stehend, ganz leicht bewegt. Es sind dies die Chorsänger, die zu des Kaisers Namensfest normalerweise ins Freie gelassen werden, hier aber nur etwas deutlicher erkennbar, weil mehr herausgseleuchtet, zu erschauen sind und am Ende der Oper sogar zusammen mit ihren Frauen.
Nach dem von Will Humburg recht abgehackt dirigierten Beginn der Ouvertüre erschienen auf dem gesamten Bildschirm, sich langsam verdeutlichend, die Gesichter von Leonore und Florestan am offensichtlichen Hochzeitstag, wie sie einander zuprosten und einander ihre Bilder reichen und vor die Brust hängen…Dass da echte Liebe vorhanden ist, wird klar.
Im Verlauf des Abends spielte sich das Orchesters immer mehr ein und wurde zur Stütze für die Sänger.
Barbara Havemann als Fidelio-Leonore. Foto: Lena Obst
Barbara Havemann, deren letzte große Rolle am Haus im November 2021 die Premierenbesetzung der Isolde war, sang und spielte, dank ihrer männlichen Kostümierung und ihres sowohl im Altregister wie auch in der Höhe hochdramatisch gewordenen Stimme die Rolle vortrefflich. Im Gegensatz dazu durfte Anastasiva Taratorkina als Marzellinchen mit ihrem hellen, sehr jugendlichen Sopran einen bezaubernden verliebten Backfisch von heute gestalten, dem auch Vater Rocco, Dimitry Ivashchenko, sichtlich sehr gewogen war. Der Kerkermeister, offenbar bereits an sein schweres Amt gewöhnt, konnte glaubhaft machen, dass er daneben gern einer Familie ein bürgerliches Leben gestalten helfen wollte. Mit seiner angenehmen Bassstimme konnte er die Lobpreisung des Goldes erklingen lassen und mit mit akzentfreier Sprechweise sein menschliches Wohlwollen zum Ausdruck bringen. Als Jaquino, Ralf Rachbauer, mit hellem Tenor, dunklem, grobem schwarzem Bart und Halbglatze räumte man diesem Anwärter auf Roccos Tochter allerdings wenig Chancen ein. Etwas zu wenig furchterregend war auch der Pizarro von Claudio Otelli (Anfang der 90erjahre Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, seither weltweit freischaffend unterwegs). Die Regisseurin konzedierte ihm, dass er auch ein Auge auf Marzelline geworfen hatte.
Sehr organisch lief das Chorfinale des 1. Aktes musikalisch wie auch in statischer Form auf der Bühne ab. Die Sensation des Abends stand noch bevor.
Marco Jentzsch als Florestan – in Liebes- und Leidens-Ekstase (c: Lena Obst)
Der Vorhang öffnet sich zum 2.Akt ein paar Takte nach Beginn der Orchestereinleitung vor komplett dunkler Bühne. Man zitterte schon, ob kurz vor Beginn der Florestan-Arie die Beleuchtungsverantwortlichen etwa ihre Pflicht vergessen hätten. Es blieb vollkommen dunkel, als die Tenorstimme von Marco Jentzsch mit einem kraftvollen, endlos scheinenden „Gooooooooooooooooott…! einsetzte, das einen erzittern machte – so schön, so endlos schien der verzweifelte Anruf und dann die Feststellung „…welch Dunkel hier“ und man glaubte diesem Menschen, den man gar nicht sehen konnte, die „grauenvolle Stille“, die er zu ertragen hatte…. Und die Aussage „Das Maß der Leiden steht bei dir“ klang ebenso kraftvoll, hell und schmerzensreich, dass man verstand, womit er sich so lange Zeit zu trösten versucht hatte. Erst bei „Süßer Trost in meinem Herzen lichtete sich der Kreis um den Knieenden ein wenig und man sah in weit aufgerissene schwarz glühende Augen – erschreckend zwischen den langen, ihm seitlich herunterhängenden schmutzigen Haaren. Und der Sänger sang sich in eine Ekstase hinein, die, trotz des vokal immer leuchtender werdenden „himmlichen Reiches“, in einem körperlichen Zusammenbruch des ausgehungerten Mannes enden musste. Da war keine Steigerung mehr möglich.
Leonore und Rocco waren gleicherweise mitgenommen, und die Totenstille im Publikum sprach für sich. Da vergeht einem wahrlich das Verlangen nach profanem Applaus, wie er nur ganz kurz und zögernd ansetzte. Die gesprochenen Szenen im Folgenden waren umso verhaltener, als Leonore in diesem Mann ihren Florestan erkannt hatte und beim Erscheinen Pizarros jäh wusste, was sie zu tun hatte. Die „namenlose Freude“ klang beidseitig wie nicht von dieser Welt.
Wer nun – wie gewohnt, vor allem in der Wiener Inszenierung von Otto Schenk – die 3. Leonoren-Ouvertüre erwartete, wurde enttäuscht. Ganz wenige Minuten, wo niemand auf der Bühne wusste, was er eigentlich tun sollte, vergingen, ehe sich der Vorhang wieder öffnete und man ganz profan das versammelte Volk mit Don Fernando – Christopher Bolduc in der Mitte erblickte, um umgeben von seinen Begleitern und allen Solisten seine schöne Botschaft zu verkünden. In der kurzen Umbaupause hatte man auf der rechten Bühnenseite Florestan an einem Tisch zum Sitzen gebracht, der, jetzt bei hellem Licht, immer noch elendiglich aussah und nach dem Jubelfinale Kopf und Arme nochmals erschöpft, wenn auch erleichtert, auf den Tisch sinken ließ.
Die Regisseurin war also offensichtlich bemüht, pure Opernkonvention zu vermeiden und die menschlichen Befindlichkeiten von Opernfiguren zu vertiefen. Leonore zeigte nun auch Zuversicht, dass sie ihren geliebten Florestan wieder haben würde, der ihr Bildchen von der glücklichen Hochzeit immer noch an einer Kette vor der Brust hängen hatte.
Man kann immer irgendwelche Details bekritteln, aber die menschliche Aussage von Beethovens einziger Oper war da.
Sieglinde Pfabigan