Wiener Festwochen / Parlament / Historischer Sitzungssaal:
LETZTE TAGE. EIN VORABEND von Christoph Marthaler
AUFTRAGSWERK / URAUFFÜHRUNG
Premiere: 17. Mai 2013
Für das Publikum ist das Parlament als theatralischer Aufführungsort nicht unbedingt angenehm. Bekanntlich ist der Einlass ins Haus mit flughafenähnlichen Zeremonien verbunden. Dabei heißt es erst einmal warten, unter Umständen lange. Da knäulen sich schon Hundertschaften im Foyer, bevor die Herrschaften gerade eine Viertelstunde vor Beginn damit anfangen, langsam die Zuschauer hineinzulassen. Nach Durchleuchtung des Gepäcks und Durchschreiten der Sicherheitsschleuse (irgendwie piepst jeder, also kommen noch die Handapparate zum Einsatz) hat man ein Stück Weges zu gehen – aber man kann eigentlich nicht die Gelegenheit benützen, sich in Ruhe die Schöpfung von Theophil Hansen (auch er wurde vor 200 Jahren geboren) anzusehen. Da wird man zügig doch zum Historischen Sitzungssaal weitergeleitet – um auch dort wieder vor verschlossenen Türen zu stehen. Kurz, wer nicht von ausgesprochen gelassener Gemütslage ist, den nerven die Präliminarien gewaltig. Bis dann wirklich alle im Saal sind, hat der Vorstellungsbeginn (zumindest bei der Premiere) satte zwanzig Minuten Verspätung. Und dann sind es noch zweieinhalb Stunden ohne Pause, die auf den Zuschauer warten.
Man sitzt nicht auf jenen Lederstühlen, die einst zu Kaisers Zeiten die Reichsratsabgeordneten drückten, denn dort wird Theater gespielt. Das Publikum findet sich in den restlichen Raum gequetscht, um sich „Letzte Tage. Ein Vorabend“ anzusehen, jenes Auftragswerk der Wiener Festwochen an Christoph Marthaler, dessen Titel nicht von ungefähr an die „Letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus erinnert (die Inspiration ist evident) und das auch nicht von ungefähr in diesem Saal spielt: Die Historie ist der Ausgangspunkt für einen politischen Spaziergang in die Gegenwart. Und diesmal als Werk gänzlich collagierter Eigenbau. So können sich Autor Marthaler und Regisseur Marthaler (dem auch nicht viel eingefallen ist) gegenseitig bei sich selbst beschweren, wenn das Endprodukt mehr als schwächelt. Wie immer bei Marthaler ist der Abend natürlich stark mit Musik verbrämt, für deren Zusammenstellung und Leitung Uli Fussenegger (seines Zeichens selbst am Kontrabass) zuständig ist.
Geblödel zu Beginn – Putzfrauen werden hereingeführt, sollen putzen, setzen sich lieber zusammen und zeigen einander ihre Beine, was dem Publikum gleich zu Beginn reichlich Schenkel-Beschau verschafft. Dann stolpern, mit Karnevalsmasken, die übrigen herein – und so, wie man sich gegenseitig anschreit und beschimpft, so mag es vielleicht im alten Reichsrat zugegangen sein.
Eine fiktive Rede – wir sind „200 Jahre nach Mauthausen“ – verweist jedenfalls in eine Zukunft, wo es einen „Kaiser von Habsburg-Europa“ gibt und stolz verkündet wird, Rassismus sein ein fester Bestandteil der europäischen Kultur und werde darum ins Weltkulturerbe aufgenommen: Man ist beim Thema.
Dieses erfährt jetzt, teils kabarettistisch, zahlreiche Variationen, meist in Monologform einzelner, während die anderen Beteiligten „Abgeordnete“ spielen und in ihren Reihen sitzen. Da gibt es etwa – monoton geflüstert von Josef Ostendorf – eine antisemitische Hetzrede, die Karl Lueger 1894 gehalten hat. Dokumentarisch geht es weiter, wenn das (auf dem „Falter“ basierende) Interview mit einer FPÖ-Politikerin (wer wird das wohl gewesen sein?) auch reinen Kabarett-Charakter annimmt. Da geht der Gesang in fesches Gejodel über, Katja Kolm kann das. Dann monologisiert eine Frau ihre bürgerlichen Ängste vor den Ausländern, da postuliert eine flammende Neo-Nazi-Rede die verlorenen „Werte“ und geht in Randalieren über, und Silvia Fenz als „Dame von Welt“ bietet näselnd alle Ressentiments, die manche Österreicher gegen die auferlegte Geschichtsbetrachtung hegen (etwa, dass man 1945 „befreit“ und nicht eigentlich besetzt bzw. besatzt worden sei). Und vermutlich ist Viktor Orbàn wirklich so unverblümt gegen Zigeuner und Juden ins Feld gezogen, wie man es sich hier mit ungarischem Zungenschlag anhören kann…
Das Anliegen der jüdischen Musik, die teils vergessen ist (am ehesten kennt man noch die Namen von Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff), wird an diesem Abend weniger gut vertreten – es gibt zwar immer wieder die gesungenen Musikeinlagen, und am Ende steht dann eine lange orchestrale Musikfläche, aber sehr organisch fügt sich das nicht zusammen. Tatsächlich wirkt das Unternehmen die meiste Zeit eher lähmend.
Was war das also? Nötiger Nachhilfeunterricht? Im Grunde hat Marthaler nur zusammengekehrt, was zu den Themen Antisemitismus und Rassismus an wohlfeilen Erkenntnissen herumliegt – und hat sie in keiner Weise theatralisch einsichtig verarbeitet. Was macht man aber, wenn man einen solchen „eh schon wissen“-Abend für unsäglich simpel, ja penetrant hält? Früher hätte man unbefangen zitiert: „If you have a message, call Western Union“ oder „Gut gemeint ist noch lange nicht gut“, aber wenn man dies in solch „politisch korrektem“ Zusammenhang wagen sollte, setzt man sich unweigerlich dem Verdacht aus, sowieso klammheimlich ein Antisemit und Rassist zu sein und künstlerische Einwände nur als Vorwand zu nehmen. Das ist ein Dilemma, aus dem man heutzutage nicht herausfindet.
Ja, Grillparzer hat die Lösung gekannt: „Da tritt der Österreicher hin vor jeden – denkt sich sein Teil, und lässt die anderen reden.“
Renate Wagner