WIENER FESTWOCHEN 2020: Spezielles benötigt ein spezielles Publikum
Die Wiener Festwochen 2020 haben es nicht gerade leicht. Interessante Programme sollen den Wienern angeboten werden – doch die jetzt gezeigten Produktionen, welche im heutigen internationalen kulturellen Netzwerkbetrieb herum gereicht werden, haben ihre Stärken, verlangen aber auch ihr spezielles Publikum. Ja, man kann so manch sehr interessante Bekanntschaft mit angereisten kleinen Ensembles, mit originellen Kunstjüngern und ihren Trüppchen machen. Die Möglichkeiten zum Lernen über aktuelles künstlerisches Denken ist gegeben. Das gute Publikum im Museumsquartier geht fast immer mit Interesse mit – allerdings es ist nun einmal, Junge wie Ältere, ein eingeschränkter Kreis. Und somit erweisen sich diese Kurzgastspiele als schwarze Flecken für die doch sehr gemischte städtische Bevölkerung.
Ihre speziellen Qualitäten habe sie jedoch alle, diese auf künstlerische Individualität zielenden Festwochen-Abende wie „Eraser Montain“, „Oozing Earth/Gravetemple“, „Occam Ocean II / Chry-Ptus“ (was steckt dahinter?) oder wie die heuer gebotenen Performances auch heißen mögen. Tanztheater oder szenische Mischformen stehen jedenfalls oben an. Boris Nikitin, von schweizerischen Institutionen gesponsert, reflektiert in „24 Bilder pro Sekunde“ über das Sterben – genauer: über die Sterbeminuten seines schwer erkrankten Vaters. Offene Bühne, Videoprojektionen, eine schon mehr als hemdsärmelige, völlig salopp herumschreitende, hüpfende, in Zuckungen verfallende, sich schüttelnde, sich am Boden wälzende, wiederholt die Kleidung wechselnde sechsköpfige Schar: Assoziationen zu einem trivialen Leben, zu menschlichem Vegetieren, schließlich dem Dahinscheiden in immer extrem ausgesponnenen, dabei einfach gehaltenen Darstellungen ergeben sich. Mit doch
manch starken Momenten. Ohne Blick ins Programmheft: Nicht so klar zu durchschauen. Doch der theatralische Gag hilft: vier präparierte Pianinos in einer Linie gereiht, vom Kukuruz Quertett aus der Schweizer laut oder leise mit höchster Hingabe gespielt und gehämmert, liefert zum Bewegungsspiel mit überwiegend repetierendem Minimal-Sound die eindringlich Klangkulisse dazu ab.
Die Portugiesin Marlene Monteiero Freitas bietet Tanztheater auf ihre eigenwillige Art. „Mal – Embriaguez Divina“ heißt es hier. Mal = ist nun einmal das Böse, Leiden, Schmerz, Schrecken, die Maschinerie zur Unterdrückung der Menschen. Dies ist ansatzweise zu verspüren, hat aber hier getanzt auch seine humoristischen Momente. Freitas zieht ihre Manier in bunten Bildern konsequent durch: groteske ruckhafte Bewegungen, gewaltiges Stampfen, puppenhaftes oder zackiges Spiel im banal triebhaften Geschehen. Auch hier ist alles in die Länge gezogen, mit ständigen, auch enervierenden Wiederholungen. Die aufgerissenen Augen, starrende Blicke, verzerrte Gesichter lassen einen gestandener Wiener wohl murmeln:“Lauter Blöde!“ Doch die Ausdrucksintensität wirkt, lässt auch Schauer aufkommen. Somit, nochmals gesagt: Spezielles benötigt auch seine speziellen Betrachter. Noch bis 26. September kommen die Festwochen solchen aufnahmefreudigen Wienern entgegen.
Meinhard Rüdenauer