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WIEN/ Werk X: TANZ*HOTEL-Festival „GAST*SPIELE“: Robert Steijn mit „Deer Dreams“ und Luigi Guerrieri mit „Poor Guy“

27.10.2025 | Ballett/Performance

WIEN/ Werk X: TANZ*HOTEL-Festival „GAST*SPIELE“: Robert Steijn mit „Deer Dreams“ und Luigi Guerrieri mit „Poor Guy“

 Nach 2023 veranstaltete das Wiener Tanz*Hotel, 1992 als zeitgenössische Tanz-Compagnie und Produktions-Plattform vom Wiener Choreografen und Tänzer Bert Gstettner gegründet, seine zweiten Gast*Spiele. Vom 16.-26. Oktober 2025 präsentierte „Dance Poetry Performances 2025“ zehn aktuelle Produktionen aus zeitgenössischem Tanz, Musik und Performance mit vorrangig literarischen Inspirationsquellen im Werk X am Petersplatz.

 Wien-Premieren, Uraufführungen und Wiederaufnahmen, Gruppen- und Solo-Arbeiten, Genre-Grenzen Sprengendes und Reinrassiges, angeregt von Roland Barthes bis zum Schamanismus. Vielfalt auf hohem Niveau. Und wenn man eine Headline über alle Stücke setzen wollte: Die Suche des Menschen nach sich selbst und seiner Position in dieser Zeit und der gebeutelten Welt. So auch die beiden ästhetisch sehr verschiedenen, inhaltlich doch beieinander liegenden, jeweils etwa eine Dreiviertelstunde langen Stücke „Deer Dreams“ und „Poor Guy“, als Doppel-Abend zwei Mal gezeigt.

 Robert Steijn mit „Deer Dreams“

 Der 1958 geborene Niederländer Robert Steijn, Choreograf, Regisseur, Dramaturg, Performer und Autor, ein Spätzünder (er begann erst im Alter von 43 mit dem Bühnentanz), lebt in Amsterdam und Mexico-Stadt. Dort leitet er gemeinsam mit dem mexikanischen Choreografen Ricardo Rubio die School of Tender Thinking, die, von Trance-Ritualen und Pflanzenmedizin beeinflusst, Spiritualität, Heilpraktiken und Kunst miteinander verbindet.

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 Robert Steijn: „Deer Dreams“ (c) Hanna Fasching

 Was zu spüren ist in seiner als Koproduktion im Rahmen des aktuellen Residenz-Projektes Artist At Resort Term 26 des Tanz*Hotel entstandenen Solo-Arbeit „Deer Dreams“. Der Titel verweist auf die mythologische Bedeutung des Hirschen als Symbol für Erneuerung, Leben und Göttlichkeit, für Männlichkeit, Fruchtbarkeit und Weisheit, für den Boten aus der Anderswelt und, nicht zuletzt, als Führer für Schamanen.

 Die Doppeldeutigkeit des Titels, die Träume des respektive vom Hirschen, führt in die Doppelbödigkeit des Stückes. Es ist wie ein auf die Bühne gestelltes Gebet eines Sehenden, der gesehen, sprich erkannt werden will. Nicht um seiner selbst willen. Er bittet um die Eingießung des Mutes zur rückhaltlos ehrlichen Innenschau, um das Besiegen der Angst vor den in das Dunkel der Seele verbannten ureigenen Ungeheuern. Für jeden Menschen. Mit dem Ziel, die Selbst-Wahrnehmung und die der Welt zu ändern.

 Robert Steijn arbeitete für „Deer Dreams“ zusammen mit dem New Yorker DJ und Produzenten Dennis Ferrer und der niederländischen Kostümbildnerin Janneke Raaphorst, die mit einer kleinen Puppe auch ein Miniatur-Alter-Ego schuf. Steijn lotet in Stille und Dämmerlicht die drei Dimensionen des ihn umgebenden Raumes, also des Universums, aus, zelebriert ein schamanistisches Ahnen-Ritual, wedelt, bald wütend, ein goldenes Tuch. Quälende Ansprüche und Erwartungen an sich selbst, ans Außen und von diesem. Er wischt sie einfach ab von sich.

 Er posiert in der idealisierten Darstellung des Menschen in altgriechischen Skulpturen. Um sich zu befragen: Lebe ich falsche Bilder von mir? Habe ich das Gefühl zu genügen? Mit einem grau melierten Tuch macht er sich zum Geist seiner selbst, entdeckt die aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlichen Aspekte des Einen in sich. Alles in der Stille. Meditation, Einkehr, keinerlei Ablenkung von sich selbst.

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 Robert Steijn: „Deer Dreams“ (c) Hanna Fasching

 Er singt von Mondzyklus und Wasser, von Wald und Netzwerk und von Widerstand. Naturgegebene Bedingtheiten und Abhängigkeiten. Mit dem grauen Tuch erzählt er von sich, seinem widerständigen Geist und seinem Ich. All das gilt es zu akzeptieren. Die kleine Puppe wird zur Marionette in seinen Händen, er zu ihrem Abbild. Er singt zärtlich ein spanisches Lied von Frau und Erde und seinem Weg. Die Puppe tanzt. Es ist so wenig und macht so viel.

 Ein blauer Schamanen-Mantel kommt bei krachendem Techno, dem neuzeitlichen, in großen Gemeinschaften gefeierten Ritual, ins Spiel. Um sich selbst zu spüren. Und sich als Teil der Masse. Im Tanz löst sich, löst er die Identität auf.

 Robert Steijn baut mit dem goldenen Tuch und dem grauen, den zwei hölzernen Stäben (immer wieder Instrumente zum Klopfen ritueller Rhythmen) und der Platte mit einer Kette aus Knochen darauf als Zeichen der Ahnen-Verehrung und mithin der Bewusstheit über die eigene und die kollektive Vergangenheit an ihren Ecken und mit dem blauen Mantel als Symbol des spirituellen Zentrums einen viereckigen Garten Eden.

 Dieses biblische Paradies steht für den Geist dieses Stückes und seines Schöpfers. Das goldene Tuch, zu einer Pyramide aufgerichtet, wird zum Grabmal für das Getriebensein von falschen Götzen. Dann die drei ineinander verflochtenen Textilien vor sich haltend fährt ein Blitz hernieder und beendet die Show.

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Robert Steijn: „Deer Dreams“ (c) Hanna Fasching

 Steijn findet kraftvolle Bilder, unspektakulär wegen ihrer reduzierten Ästhetik, aber in ihrer Sanftheit eindringlich. Die Gelassenheit in Duktus und Sujet, die Zärtlichkeit und die Intimität seiner Performance und das meditative Moment des Stückes zeugen von Reife und Tiefe der Persönlichkeit dieses so bescheidenen Choreografen.

 Diese Arbeit ist ein heilendes Ritual. Die Befreiung des Geistes durch Bewusstmachung aller, namentlich der unbewussten intrapsychischen Aspekte und die Integration dieser in ein von Zulassen und Akzeptanz geprägtes Selbstbild ist gleichzeitig der Weg hin zu einer sozial kompetenten, integrativen, weil integrierten Persönlichkeit. Frieden schaffen beginnt bei uns selbst. Robert Steijn weist uns einen Weg in innere und kosmische Harmonie. Zum Wohle des Individuums, der Gesellschaft und auch dieses Planeten.

 

Luigi Guerrieri mit „Poor Guy“

 Er arbeitet als Koch. Auch. Hier aber steht er nackt vor uns, entäußert aller Verkleidungen, Oberflächen und Habseligkeiten. Und er zieht sich noch weiter aus. Der Performance-Künstler und Kultur- und Sozial-Anthropologe Luigi Guerrieri, geboren in Italien und in Wien lebend und arbeitend, begibt sich mit „Poor Guy“ in das Innere seiner zernarbten Seele. Die Türen dorthin öffnet er mit viel Humor und Selbstironie.

 Diese Distanz zu sich selbst erlaubt ihm einen umso schonungsloseren Blick in die dunklen Abgründe seiner Psyche. Guerrieri entdeckt in diesem Stück eine Fülle von Ereignissen und Umständen, deren Wirkungen letztlich traumatisierend waren. Unter Einsatz von Tanz, Bewegung, Stimme und vielgestaltig modulierter (Aus-) Sprache reisen wir mit ihm in seine (und also unsere) Gefühlswelt.

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Luigi Guerrieri: „Poor Guy“ (C) Hanna Fasching

 Das Beispielhafte seiner Geschichte macht das Stück so wertvoll. Anhand der wohl bekannten emotionalen, physischen und sprachlichen Manifestationen von Traumata und durch den Einsatz so einiger europäischer Sprachen (italienisch, englisch, französisch, spanisch, deutsch) erlaubt er dem Publikum eine von aller Scham und mancher Angst befreite Entdeckungstour durch die endlosen, schlecht beleuchteten Korridore der eigenen Seele. Weil man weiß, dass man nicht allein ist.

 Der Saal des Werk X mit seiner hinten fix installierten zweiseitig geschwungenen Stiege hinauf zu einem Podest bietet dem Performer ein ideales und weidlich genutztes Setting. Oben als Jesus (seine Mutter hätte ihn gern so genannt, sein Vater aber lehnte das und ihn ab) am Kreuz beginnt er und weist schon damit auf die Mission des Stückes: Sein Opfer gilt uns. Wer möchte, kann in den Spiegel schauen. Und ab geht die Reise durch sein Reich, errichtet auf Mangel, Verletzungen, Depressionen, selbst erlittenen und vererbten Traumata.

 Er artikuliert sich tänzerisch und sprachlich multilingual und virtuos auf verschiedenste Weisen. Vom Stottern über Staccato bis ins rhythmisch Perpetuierende, vom Selbstmitleid über die Affirmation bis zur Panik-Attacke, von der Selbstüberhöhung über Selbstentwertung bis in die Manie. Sein Weg beginnt bereits mit dem Geburtstrauma, führt über Ablehnung, Mobbing und Unterdrückung als Kind, Jugendlicher und Erwachsener, den Tod seines Vaters und ererbte Traumata seiner Mutter in die Diversität traumatisierender familiärer, sozialer und gesellschaftlicher Konditionierungen.

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Luigi Guerrieri: „Poor Guy“ (C) Hanna Fasching

 Schuldgefühle, Selbstzweifel und Autoaggression sind die Folgen, die Flucht in den Narzissmus der Not wendiger Weise über die fehlende Liebe hinweg tröstende Weg. Die Stärke seines Stückes liegt neben der umfänglichen Beschreibung von traumatisierenden Ereignissen und Bedingungen in der Analyse der Ursachen von Traumata und insbesondere narzisstischen Persönlichkeitsstörungen.

 Poor Guy“ ist eine soziologisch-tiefenpsychologisch brillante Studie über den seelischen Allgemein-Zustand des Individuums und der durch Massen dieser geformten Gesellschaft. Zugleich entlarvt Guerrieri das, was schlechthin Identität genannt wird, als Produkt von selbst-entfremdenden, also krank machenden Einflüssen.

 Der absoluten und bedingungslosen Ehrlichkeit und seiner rückhaltlosen Offenheit zu aller erst sich selbst und in weiterer Folge seinem Publikum gegenüber gebührt größter Respekt. Luigi Guerrieri veröffentlicht sich als Beispiel für uns alle. Die Größen der Anteile von Wahrheit und Fiktion darin sind unerheblich. Er formuliert mit abgründigem Witz nicht nur die Wurzeln der negativen Selbst- und Weltbilder und deren individuelle Auswirkungen sowie mannigfaltige Strategien zur Linderung der resultierenden psychischen Qualen.

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Luigi Guerrieri: „Poor Guy“ (C) Hanna Fasching

 Zudem: Weil sie in die Gesellschaft hineingetragen werden und von dort wieder rückwirken auf den Einzelnen, entstehen ewig drehende toxische Spiralen, im großen wie im Kleinen. Bis sie durchbrochen werden. Am Ende sagt er: „Let it go! Just forget!“ und „Ich spiele nicht mit!“ und öffnet damit die Tür nach draußen. Das Publikum bejubelte diese bereits beim diesjährigen ImPulsTanz-Festival gezeigte Arbeit und den wunderbaren Performer.

 Robert Steijn mit „Deer Dreams“ und Luigi Guerrieri mit „Poor Guy“ am 25.01.2025 im Werk X am Petersplatz Wien im Rahmen des TANZ*HOTEL-Festivals „GAST*SPIELE“.

 Rando Hannemann

 

 

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