Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN/ Volkstheater: TRAISKIRCHEN – die schweigende Mehrheit. Musical. Uraufführung

11.06.2017 | Operette/Musical

Wiener Festwochen im Volkstheater: Die Schweigende Mehrheit TRAISKIRCHEN. DAS MUSICAL 9.6.2017 (Uraufführung)

71710011436516098_BLD_Online
Copyright: APA/ Neubauer

Im Sommer 2015 gründete sich das KünstlerInnenkollektiv „Die Schweigende Mehrheit“ als vielsprachige, internationale künstlerisch-politische Interventionsgruppe, die auf Bühnen und im öffentlichen Raum die Stereotypen, Klischees und Erzählkonventionen erschüttert, mit denen in den politischen Auseinandersetzungen auf der Stelle getreten wird. „Die Schweigende Mehrheit“, das sind Tina Leisch und Bernhard Dechant, die gemeinsam das Konzept, den Text und die Regie dieses Musicals verantworten. Sie sind davon überzeugt, dass „die Schweigende Mehrheit der Menschen viel mehr Herz hat und viel weniger Angst, als man uns vormachen möchte“. Zuletzt hatte das KünstlerInnenkollektiv mit seinem Theaterstück „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“, das gemeinsam mit Flüchtlingen aus dem Lager Traiskirchen und Bürgern und Aktivisten beiderlei Geschlechts entstanden war, für große Aufmerksamkeit und mediales Echo gesorgt und erhielt dafür am 6. Juni 2017  auch völlig gerechtfertigt den Theaterpreis Nestroy im Wiener Volkstheater verliehen. 

Traiskirchen_3_vor_dem_lager_by__Alexi_Pelekanos_Volkstheater_sml
Vor dem Lager. Copyright: Alexi Pelekanos

Die knapp mehr als 30 Mitwirkenden rekrutierten sich einerseits aus Geflüchteten aus dem Lager Traiskirchen und Künstlern beiderlei Geschlechts, die schon lange in Österreich mit und ohne Migrationshintergrund leben. Gemeinsam wollten sie mit den verschiedensten Mitteln der Kunst politisch brisante Inhalte bühnenwirksam aufbereiten und auf packende Weise demaskieren. In den lose aneinandergereihten Szenen wird unter anderem in aberwitziger bis absurder Weise vorgeführt, wie vor dem Lagertor Kinderkleidung und Stöckelschuhe, Heilsversprechen und verschiedene Verschwörungstheorien getauscht werden. Via Facebook hatten die damals vor Ort tätigen Hilfsorganisationen versucht, jene tatsächlich in einem Koffer als „humanitäre“ Spende abgegeben Stöckelschuhe gegen brauchbares Schuhwerk einzutauschen… Die obdachlosen Flüchtlinge versuchen durch ihre Songs und Tänze, wie sie die Kriegstreiber zu Fall bringen könnten und entwickeln dabei ihre eigenen Liebesgeschichten, ins Groteske ausufernde Missverständnisse und politischen Intrigen, die sie zu einem außergewöhnlichen, packenden Spektakel verflechten, in dem jene brennenden Fragen gestellt werden, die unsere Wohlstandgesellschaft in den nächsten Jahren beschäftigen werden. Wahre Begebenheiten, wahre Geschichten aus dem Lager und der Gesellschaft werden in aberwitziger Verpackung vorgeführt, deren Kernaussagen den größten Teil des Publikums an diesem Abend betroffen machten. Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, dass sich zwei Damen, die neben mir in der zweiten Reihe des Balkons auf den Plätzen 2 und 3 saßen, knapp zehn Minuten vor der Pause entfernten. Es liegt wohl die Vermutung nahe, dass Sie lieber ihre Augen und Ohren vor dem Elend anderer Menschen verschließen, um nicht von Betroffenheit ergriffen zu werden…

Als roten Faden hält der fast ständig mit seinem Smartphone telefonierende schwarzafrikanische korpulente Securitymann mit Sätzen, wie etwa „Geh Schatzi, mia haum da jetzt an Stromausfall“, in breitestem Wiener Dialekt die einzelnen Performances der Asylanten wie ein Conférencier zusammen. Moussa Thiaw spielt den „ORS-Moses“, jenen Mitarbeiter des privaten Lagerbetreibers, der am liebsten mit seinem Schatzi telefoniert und so gar nicht an seiner Arbeit im Flüchtlingslager interessiert ist. Mehr als 4000 Flüchtlinge mussten in den ersten Wochen und Monaten in dem hoffnungslos überfüllten und bloß für 1800 Personen ausgerichteten Lager zubringen. Von ihren lebensgefährlichen Erlebnissen auf der Flucht traumatisiert werden sie im Lager noch zusätzlich schikaniert, indem sie sich in der glühenden Hitze stundenlang für die Essensausgabe anstellen müssen. Den Höhepunkt des Abends stellt dann eine Pro- und Contrademonstration dar, in deren Verlauf auch die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner in Gestalt von Khalid Mobaid, der auch den „Schlepperjesus“ mit drastischem Humor ausstattete, das Lager besuchte und sich der Skandalpresse in diesem Land Österreich medienwirksam mit einem süßen kleinen afrikanischen Flüchtlingskind fürs Foto präsentierte. Durch den Auftritt des von Bernhard Dechant gespielten „Sandlergottregisseures“ entdecken die heimischen Medien, die sich sonst nur damit begnügten, gegen Bettler und Obdachlose zu „hetzen“, plötzlich die in Österreich beheimateten „Sandler“, die man doch viel eher unterstützen sollte als die Flüchtlinge in Traiskirchen. Bagher Ahmadi trat als Afghane auf, der dringend geheiratet werden muss, damit er endlich arbeiten darf. Yasser Alnazar spielte einen vermummten Krieger, Stefan Bergmann spielte und sang einen Einwohner von Traiskirchen, der für Refugees Blumen pflanzt. Julia Bernhardt war in der Doppelrolle der tanzenden Flyerverteilerin und einer hysterischen Journalistin zu bewundern.  Hanna Binder spielte und sang den Betreuungsstellendirektor sowie die Eulenrichterin. Alireza Daryanavard sang die Suren des Aufstands. Ardee Midel Dionisio spielte einen Folterer. Uwe Dreysel sang und spielte den ORS-Josef, der mehr helfen möchte, als er vermag. Daniyal Gigasari vollführte den Nazi-Moonwalk, Gat Goodovich spielte die Staatsanwältin und tanze das Zelt. Laila Hajoulah möchte einmal wieder jung sein. Farzad Ibrahimi spielt den ORS-David, die Pfeife. Jasmeet Kaur Samba sang Happy Birthday für das Baby. Jihad Al-Khatib spielte den Dschihadisten, der die Medikamente auf religiöse Reinheit prüft. Negin Keivanfar zertrat in der Rolle einer Dschihadistin die Tränenden Herzen. Amin Khawary bewegte als letzter Christ auch mit Hardrock niemanden in die Kirche. Zaher Mahmoud will den Islam mit Feuer und Schwert verbreiten. Johnny Mhanna erschlug als syrischer Rebell die Gelse. Haidar Ali Mohammadi, der Kung-Fu-Meister, spielte die „Schildkröte“. Mazen Muna verkörperte im Tribunal die Krähenverteidigerin. Nyima Ngum, die schon mehrfach bei der Jugendlichen-Theatergruppe SchauSpielWerk im WuK (Werkstätten- und Kulturhaus) mitgewirkt hatte, spielte das Mädchen, das nur redet, wenn sie etwas zu sagen hatte. Dariush Onghaie, promovierter Arzt, ist in Wien aufgewachsen. Er spielte und sang den Troublemaker, die Krone der Schöpfung. Jantus Philaretou spielte und sang den ORS-Jakob und den Nazi. Eva Prosek sang und hielt die Standarte der Heimat aufrecht. Sophie Resch sang und prüfte das Mitleid mit den Haien auf sein Weltverbesserungspotential. Basima Saad Abed Wade wollte ungestört von Männerblicken duschen. Shureen Shab-Par, im Zivilberuf Ärztin, spielte jene Kurdin, die ihren Folterer vor Gericht gestellt und verurteilt sehen möchte. Futurelove Sibanda spielte und sang Mocheza Mochema Chezuka Yokha, Mr. Fishlove. Pal Singh Chopra , ein Flüchtling mit Down-Syndrom, spielte Luftgitarre und erlöste uns. Und schließlich sang Hichran Taptik noch als Ärztin vor dem Lagertor. (Die einzelnen Rollencharakterisierungen wurden dem Programmheft entnommen).

Traiskirchen6_by_Verena_Schaeffer
Copyright: Verena Schaeffer

Imre Lichtenberger Bozoki hatte die musikalische Leitung und auch einen Großteil der verwendeten Musik komponiert, die natürlich aber nicht ausschließlich aus den musikalischen Reservoiren von Kurt Weill und vielleicht auch ein wenig von Paul Dessau schöpft. Das Kammerorchester setzte sich aus einem Violoncello, einer Klarinette, Schlagzeug und Percussion, einer Gitarre und einer Viola zusammen. Die schmissige Choreographie besorgten Birgit Unger und Tim Nouzak. Die Bühne und Kostüme entwarf Gudrun Lenk-Wane. Den Chor und das Gesangscoaching besorgte Eva Prosek. Das spannende Lichtdesign entwarf Dulci Jan.

Der Abend verlief wie im Fluge und hinterließ beim Publikum große Betroffenheit. Die einzelnen gesungenen und gespielten Szenen waren vortrefflich miteinander verknüpft, sodass man Lust empfindet, diese Produktion noch öfters zu sehen. Dementsprechend fiel auch der Applaus des Publikums mit Standing Ovation enthusiastisch aus. Bravo!                                                                                          

Harald Lacina

 

 

 

Diese Seite drucken