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WIEN/Volkstheater/ ImPulsTanz: MYSTERY SONATAS, Choreographie von Anne Teresa De Keersmaeker, Amandine Beyer

13.07.2022 | Ballett/Performance

Wien: 20220712 ImPulsTanz Volkstheater Anne Teresa De Keersmaeker Amandine Beyer Mystery Sonatas

WIEN/ ImPulsTanz/ Volkstheater: Anne Teresa De Keersmaeker, Amandine Beyer: „Mystery Sonatas“

Die zwischen 1678 und 1687 entstandenen Mysterien- oder Rosenkranzsonaten des böhmischen Barockkomponisten und seinerzeit gefeierten Geigers Heinrich Ignaz Franz Biber wählte die belgische Choreografin und Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker, seit 1994 mit 38 Arbeiten als Choreografin und/oder Tänzerin bei ImPusTanz zu Gast, für ihre jüngste, hier als Österreichische Erstaufführung zu erlebende Arbeit „Mystery Sonatas / For Rosa“ als musikalische Grundlage. Und sie blieb ihrem zentralen Thema treu. Musik und geometrische Strukturen.

Die 15 in drei Fünfer-Blöcken (freudig, schmerzhaft und glorreich) komponierten – und sehr selten aufgeführten – Sonaten, sie unterstützten das Beten des Rosenkranzes, werden live von der französischen Violinistin Amandine Beyer und ihrem Barock-Ensemble „Gli Incogniti“ mit Original-Barockinstrumenten gespielt. 135 Minuten hochvirtuose Geigenmusik, zudem in 13 der 15 Sonaten in den sogenannten „Scordatura“, 13 unterschiedlichen, vom Standard abweichenden Stimmungen zu spielen. Das Ziel: Die melodischen und harmonischen Möglichkeiten der Geige zu erweitern. Sich selbst und die Geige transzendierende Musik.

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Anne Teresa DeKeersmaeker, Amandine Beyer: Mystery Sonatas. (c) Anne VanAerschot

Aber auch herausfordernde 135 Minuten Konzentration auf schöne, sehr komplexe und für wohl Viele noch nie gehörte Musik. Garniert mit der Kälte einer Choreografie, die die TänzerInnen in die Mechanik eingehender Untersuchungen des menschlichen Körpers, seiner Bestandteile und wie diese sich allein und zueinander bewegen und verhalten können sowie der Positionierung, Bewegung und Bewegungsgeschwindigkeit der Körper im Raum zwingt. Sie tanzen die Fibonacci-Reihe in rotierenden Linien und sich öffnenden Spiralen. In Form einer solchen erfolgt auch fast jeder Abgang der TänzerInnen.

Aber: de Keersmaeker überführt die mathematisch-geometrischen Strukturen in eine komplexe spirituelle Ebene. Die Fibonacci-Folge (und -Spirale) ist eine in der Natur vielfältigst zu entdeckende Gesetzmäßigkeit, ein Bauplan für anorganische und organische Moleküle, für den Wuchs von Pflanzen und Tieren, für Erbfolgen und vieles mehr. Die Choreografie lebt von vielen Wiederholungen ähnlicher Bewegungsmuster und -Sequenzen in ständig variierenden Kontexten. Und: Die Endlich- weil Einmaligkeit einer Live-Aufführung bindet sie in die zeitlich und räumlich unendliche Gültigkeit der Natur- und der geistigen Gesetze und die für die Ewigkeit niedergeschriebene Komposition.

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Anne Teresa DeKeersmaeker, Amandine Beyer: Mystery Sonatas. (c) Anne VanAerschot

Die Rose als Symbol für Geheimnis, Schönheit und dornigen Widerstand zugleich gibt nicht nur ihrer 1983 gegründeten Kompanie ihren Namen, sie ist hier mit dem Untertitel „For Rosa“ auch Veweis auf widerständige Frauen gleichen Namens (Rosa Parks, Rosa Bonheur, Rosa Luxemburg, Rosa Vergaelen (ehemalige Lehrerin de Keersmaekers) und Rosa, die junge Klimaaktivistin, im letzten Jahr mit 15 umgekommen bei Überschwemmungen in Belgien), denen die Choreografin dieses Stück gewidmet hat. Weil das Patriarchat und seine unheilvollen Wirkungen KEIN Naturgesetz sind. Und tatsächlich wird nach langen, für nicht Wenige zu langen Phasen kühler Abstraktion – die Flucht der ZuschauerInnen spricht von nicht intendierten (aber endlich:) Emotionen – in den eingebetteten Soli auch die Resistance getanzt.

In der Sonate IX („Die Kreuztragung“) tanzt ein Tänzer in einem Kegel aus Licht, fast wie ein Käfig, den er vorübergehend auch verlässt. Auch hier: Die Notwendigkeit, sich selbst zu transzendieren, ist eine die menschliche Existenz prägende. Für eines der Soli erscheint ein siebenter Tänzer in leuchtend gelbem Hemd. Wie ein Messias, der kraftvoll, energetisch, virtuos die Erlösung durch kämpferischen Widerstand verspricht. Getanzt in Sonate XIII: „Sendung des Heiligen Geistes“. Der strahlt mit über das Auditorium wanderndem Licht hinaus in die Welt. Und mündet in von sechs TänzerInnen erstmals mit Körperkontakt getanzte Freude. Leichtigkeit, Tanzes- und Lebenslust, die das Publikum hinrissen zu Zwischenapplaus, dem eine Erlösung von der bis hierher mindestens eineinhalb Stunden anhaltenden Rationalität der Choreografie deutlich anzuhören war.

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Anne Teresa DeKeersmaeker, Amandine Beyer: Mystery Sonatas. (c) Anne VanAerschot

Die irgendwann vordem mit ihren Bewegungen durch den Raum in diesen gezeichneten Blütenblätter prognostizierten das Aufblühen. Das der TänzerInnen, das des Emotio, das der Spiritualität.

Die Bühne (wie das Licht von Minna Tiikainen) ist leer. Auf dem Boden sind verschiedenfarbige, ineinander greifende, radialsymmetrisch in einen großen Kreis gezeichnete Kreisausschnitte, von einer diagonalen Linie geschnitten, gezeichnet. Links hinten sitzen in warmem Licht fünf Musiker, die Geigerin steht. Und über der Bühne schwebt ein durchhängender silberner Streifen, der das auf ihn gestrahlte Licht in vielerlei Brechungen auf die Bühne wirft und in Verbindung mit dem Seiten- und dem von vorn gesetzten Diagonal-Licht Stimmungen zwischen mystisch, kathedral, höhlengleich und himmlisch erzeugt. Genial!

Die Umstimm-Pausen zwischen den Sonaten, eingeleitet von kurzem Blitzlicht, füllt de Keersmaeker mit von den TänzerInnen gestellten Körper-Skulpturen, die unwirklich schön auf den Inhalt der folgenden Sonate weisen und das Formale des Tanzes brechen, ja transzendieren. Die Kostüme von Fauve Ryckebusch, vielfach transparent, deuten Gleiches an. Die Fünfer-Gruppen der Sonaten trennen Einspielungen des Schlagers von Lynn Anderson „I never promised you a rose garden“. Den hatte weder Gott der Jungfrau Maria und ihrem Sohn Jesus Christus noch das Leben den widerständigen Rosas versprochen.

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Anne Teresa DeKeersmaeker, Amandine Beyer: Mystery Sonatas. (c) Anne VanAerschot

Auf vielen Ebenen inszenierte Metaphoriken ergeben ein Werk von immenser Komplexität. Genießen können das Stück Mathematiker und Musikliebhaber. Wer in der Erwartung kam, durch Tanz berührt zu werden, wurde über weite Strecken enttäuscht. Die Länge des Abends mit seinen 135 Minuten ohne Pause und die Rationalität der Choreografie, die kopfgeboren eben diesen adressiert, veranlasste nicht wenige zum vorzeitigen Verlassen des Saales. Die vor allem in den Soli präsentierte Meisterschaft der sieben TänzerInnen, die wunderschöne Barockmusik, die Brillanz ihrer Live-Präsentation durch das belgisch-französische Ensemble „Gli Incogniti“ unter der Leitung der Ausnahme-Violinistin Amandine Beyer und insbesondere deren nicht mehr durch Tanz begleitetes Solo zum Abschluss der Performance (Sonate 16: Passagaglia „Der Schutzengel“) versöhnten mit der über weite Strecken kühlen Abstrahiertheit der Choreografie.

Rando Hannemann

 

 

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