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WIEN / Volksoper: Wiederaufnahme von Kupfers LA BOHÈME

Eine lang schon erwartete Bereicherung des Repertoires

24.10.2022 | Oper in Österreich
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Café Momus. Ensemble und Chor, Alle Fotos: Volksoper Wien / Barbara Pálffy

WIEN / Volksoper: Wiederaufnahme und Neueinstudierung von Harry Kupfers LA BOHÈME

23. Oktober 2022

Von Manfred A. Schmid

Die legendäre Inszenierung von Harry Kupfer aus dem Jahr 1984 erlebte an der Volksoper Wien bereits 2015 eine Wiederaufnahme. Damals wurde allerdings weiterhin in deutscher Sprache gesungen. Dass die nunmehrige Neueinstudierung unter Leitung von Angela Brandt nur noch in der Originalsprache erfolgt, entspricht dem heutigen Standard, insbesondere bei Werken in der vokalreichen, höchst musikalischen italienischen Sprache.

Auch nach fast vierzig Jahren strahlt die Regiearbeit des 2019 verstorbenen Regisseurs und Theaterdirektors Harry Kupfer noch Frische und anhaltende Vitalität aus. Sie wirkt schlank und vermeidet ein Abgleiten in Sentimentalität, ist aber dennoch fesselnd, berührend und vollgepackt mit Emotionen, weil die darin verstrickten Personen mit eigenen Charakteren und unverwechselbaren Eigenschaften ausgestattet sind. Jeder wird von Kupfer bis in die Psyche und hinsichtlich seiner gesellschaftliche Stellung ausgelotet. Ihre Reaktionen und Gemütswallungen entsprechen ihrer jeweiligen seelische und sozialen Konstitution. Kupfer interessiert sich nicht nur dafür, was seine Figuren tun, sondern er geht der Frage nach, warum sie das tun. Das zeigt sich z.B. besonders beim Kunstmaler Marcello, der im dritten Bild seiner leichtlebigen, freiheitsliebenden Geliebten Musetta droht, sie zu „verprügeln“, weil er nicht zulassen werde, dass sie ihm Hörner aufsetze. Da er schon von Anfang an als leicht reizbarer Macho gezeigt wird, der sich, einmal in Rage gebracht, kaum zu zügeln weiß und zu auch physischen Gewaltausbrüchen neigt, auch gegenüber seinen Freunden, kommt diese Eskalation nicht überraschend. Dieses Interesse an den Hintergründen, dieses Gespür für die Veranlagungen, Wünsche und Ängste, die die Personen antreiben und ihre sozialen Kontakte gruppendynamisch prägen, ist das, was Kupfers hochgelobte Personenführung ausmacht. Die Neuinszenierung sorgt für eine umsichtige Umsetzung dieser Vorgaben.

Eine Meisterleistung ist, auch aus heutiger Sicht, aus der Perspektive einer um vieles moderner gewordenen Bühnentechnik, das Bühnenbild von Reinhart Zimmermann. Vom Zugang zur Mansarde der Künstlerkommune im Dachgeschoss führt ein Stiegenaufgang in ein höher gelegenes Zimmer, das von der Näherin Mimi bewohnt wird. Beim Umbau für das zweite Bild im geschäftigen Quartier Latin, werden die Räumlichkeiten und die dazugehörige Stiegenkonstruktionen mit wenigen Handgriffen nach hinten geschoben. Das Dach wird angehoben und zum Dach des Café Momus, wodurch man sich eine zweite Pause erspart. Wie Kupfer dann auf der nicht sehr geräumigen Bühne der Volksoper die Menschenmassen der Aufmarschgruppen, von der quirligen Kindeschar bis zur zackigen Militärkapelle, dirigiert und durchchoreographiert, ist eine blendend bewältigte logistische Herausforderung. Die Kostüme von Eleonore Kleiber sind gefällig und passen zur Epoche.

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Anett Fritsch (Mimi), Giorgio Berrugi (Rodolfo).

Das bunte, unablässige Treiben rund um das Café Momus, mit Bühnenmusik, Chören und Kinderstimmen sowie den Diskussionen und Auseinandersetzungen der Künstlergruppe vor dem Café, aber auch der Aufmerksamkeit heischende Auftritt von Musetta im ersten Stock, alles das unter einen Hut zu bringen, ist auch ein Prüfstein für die Koordinations-  und Abstimmungsfähigkeit des musikalischen Leiters. Omer Meir Wellber am Pult des Orchesters der Volksoper macht das gekonnt und mit viel Elan. Es wird kräftig musiziert, ohne dass die Dialoge der bisweilen über die ganze Bühnenbreite aufgeteilten Sängerinnen und Sänger zugedeckt werden, auch wenn es stellenweise bis an die Grenzen des Zuträglichen geht. Aber gerade darin besteht ja das Einzigartige dieser von Puccini angestrebten musikalischen Wiedergabe einer gesellschaftlichen Ansammlung. Markschreier und Verkäuferin mischen sich lautstark ein und preisen ihre Waren an, die Kinder kreischen ohnehin in einem fort. Die Chöre, einstudiert von Roger Diaz-Cajamarca, bewähren sich in bester Manier. Omer Meir Welber aber hat in seinem Dirigat Kupfers im Programmheft zitierte Warnung davor, die sentimentalen Phrasierungen Puccinis „wörtlich“ zu nehmen und ganz vordergründig umzusetzen, ernstgenommen, weil ansonsten Aufführungen entstehen, „die Puccini in Verruf bringen, selber schrecklich sentimental zu sein“. Das ist hier eindeutig nicht der Fall.

Dass bei einer Wiederaufnahme nach so langer Zeit alle Besetzungen Rollendebüts sind, versteht sich von selbst. Anett Fritsch, schon 2015 eine hinreißende Figaro-Gräfin am Theater an der Wien und bei den Salzburger Festspielen, ist eine Mimi, die Liebe, Verzweiflung und Lebensgier angesichts einer höchst delikaten gesundheitlichen Verfassung stimmlich wie auch darstellerisch glaubhaft und rührend auszudrücken vermag. Im Duett mit Rodolfo kann sie sich mit ihrem fein geführten Sopran an die strahlende Tenorstimme von Giorgio Berrugi anschmiegen, der mit seinem Honig-Timbre einen klingenden Ruf als Puccini-Tenor erworben hat. Bei seinem Hausdebüt an der Volksoper beginnt er etwas zögerlich, erreicht aber zeitgerecht bei Mimis Eintreffen seine gewohnte Form. Ein lyrischer Tenor, kraftvoll und ausdrucksstark.

Andrei Bondarenko als Marcello steht darstellerisch als kraftmeierischer Macho auf der Bühne, hat aber einen gefälligen Bariton. Er wird aus Erfahrung klug und entwickelt gegenüber Mimi empathische Sorgsamkeit, die vielleicht auch auf seine ruppige, fordernde Haltung gegenüber Musetta abfärben könnte.

Alexander Fritzes Colline, ein eigentümlich gekleideter Philosoph mit russischer Bärenmütze und vibratoreicher Basstimme, ist das zurückhaltendste Mitglied des Künstlerquartetts. Er spricht wenig, hat seinen großen Auftritt aber mit der berührend vorgetragenen Mantelarie und tut das, was gefordert ist, zum richtigen Zeitpunkt.

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Andrei Bondarenko (Marcello), Szymon Komasa (Schaunard), Guiorgio Berrugi (Rodolfo), Alexander Fritze (Colline) und Morten Frank Larsen (Alcindoro).

Schaunard, Musiker und etwas orientierungslos, wird von Szymon Komasa dargestellt. Ein sozialer Schmetterling, der die vorübergehende Abwesenheit von Rodolfo und Marcello dazu nützt, mit deren Bräuten zu flirten. Leichtsinnig, aber auch freigiebig, wenn er durch seine Kunst erworbenes Geld sofort in Delikatessen umwandelt, die er selbstlos mit seinen Freunden teilt.

Alexandra Flood ist eine zufriedenstellende, ihren Walzer verführerisch singende, ausbaufähige Musetta, die ein gutes Hausdebüt abliefert. Die junge, aufstrebende australische Sopranistin macht neugierig auf die Aufführung der Oper Hänsel und Gretel im Dezember an der Volksoper, wo sie die Gretel singen wird.

Christopher Hutchinson (Parpignol), Daniel Ohlenschläger (Benoit) und Morten Frank Larsen (Alcindoro) vervollständigen das Ensemble rollendeckend.

Lotte De Beer gelingt mit dieser Wiederentdeckung bzw. Wiederaufnahme eine exzellente Bereicherung des Opernrepertoires des Hauses, das sie zu Saisonbeginn übernommen hat. Der reiche Beifall, wenn auch nicht sehr lange andauernd, bestätigt das vollauf. De Beer bewegt sich damit auf den Spuren von Staatsoperndirektor Bogdan Rosicic, der mit der Wiederaufnahme von Harry Kupfers Elektra ebenfalls bald nach Beginn seiner Amtszeit einen Coup gelandet und zugleich die ziemlich unerträgliche Nachfolge-Inszenierung in die Versenkung geschickt hat. Reizvoll ist zudem der nun wieder mögliche Vergleich der La Bohème-Inszenierungen in beiden Häusern – eine von Zefirelli, die andere von Kupfer. 

 Manfred A. Schmid

 

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