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WIEN / Volksoper: THE GOSPEL ACCORDING TO THE OTHER MARY

Minimal Music als maximale Bereicherung des Genres der Passionsmusik

19.06.2024 | Oper in Österreich
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Ensemble-Szene Gefangennahme Jesu. Alle Fotos: Wiener Festwochen / Barbara Palffy

WIEN / Volksoper: THE GOSPEL ACCORDING TO THE OTHER MARY

2. Aufführung der Festwochenproduktion

18. Juni 2024 (Österr. Erstaufführung 15. Juni 2024)

Von Manfred A. Schmid

John Adams, erfolgreichster Repräsentant der minimal music, hat mit seiner vielgespielten Oper Nixon in China die zeitgenössische Opernszene belebt. Aufsehen erregte auch sein im Jahr 2000 uraufgeführtes Weihnachtsoratorium El Niño (Das Kind), in dem er, basierend auf einem auf biblischen Quellen basierenden Libretto von Peter Sellars, die Geschichte von Christi Geburt erzählt, ergänzt durch Betrachtungen über die Wunder und Qualen der Mutterschaft im allgemeinen und durchaus mit  viel Bezug zur Gegenwart. Zwölf Jahre später entstand dann das Passions-Oratorium The Gospel According to the Other Mary, erneut mit Sellars als Textlieferant, der bei der besuchten 2. Vorstellung des Stücks im Rahmen der Wiener Festwochen in der Volksoper persönlich anwesend war und nach dem Ende auch für ein Gespräch mit interessierten Zuschauern zur Verfügung stand.

 John Adams, nach eigenen Angaben, kein gläubiger Mensch, wendet sich mit diesem Werk einer wichtigen musikalischen Tradition der westlichen Welt zu, in der das Genre der Passion, die Erzählung von Christi Leben, Tod und Auferstehung, eine lange Geschichte hat und von Orlando die Lasso über Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach bis Krzystof Penderecki, Aarvo Pärt und Andrew Lloyd Webber führt. Adams geht darin der Frage nach, welche Bedeutung das Göttliche heute noch hat. Deshalb spielt seine Passion auch nicht vor 2000 Jahren, sondern in heutiger Zeit. Den Rahmen der Erzählung bildet ein Übergangsheim für obdachlose Frauen, die mit Suchtproblemen zu kämpfen haben. Diese Rahmenhandlung ermöglicht es Sellars, neben biblischen Stellen auch Texte und Gedichte einer Reihe von Personen aus verschiedensten Kulturbereichen einzubauen, darunter die deutsche Seherin Hildegard von Bingen, die katholische Sozialaktivistin Dorothea Day, der Arbeiteraktivist César Chavez, die afroamerikanische Dichterin June Jordan, die mexikanische Dichterin Rosario Castellanos, die amerikanisch-indigene Autorin Louise Erdrich.

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Jasmin White (Martha) und Wallis Giunta (Mary)

Die Musik zeigt John Adams auf dem Höhepunkt seines Könnens und wird von der musikalischen Leiterin Nicole Paiement am Pult des konzentriert und beseelt spielenden Orchesters der Wiener Volksoper mit Verve und Animo zum Klingen gebracht. Anders als in Bachs Passionsmusiken, in denen ein Tenor als Evangelist bzw. Erzähler fugiert, ist diese Rolle bei Adams auf ein Countertenor-Trio aufgeteilt. Hervorragend besetzt mit Jaye Simmons aus den Opernstudio, Christopher Ainslie und Edu Rojas, die den biblischen Bericht, hauptsächlich dem Lukas-Evangelium entnommen, mit hellen, manchmal auch spitzen Tönen präsentieren.

Jesus ist in diesem Passions-Oratorium nie als Person anzutreffen, aber dennoch stets präsent. Was er zu sagen hat, erfährt man ebenfalls von den drei Countertenören, aber auch von der Maria und einmal sogar vom Chor. Maria und ihr Schwester Martha, hier auch die „andere Maria“ genannt (nämlich jene Maria, die bei der Wiedererweckung ihres Bruders Lazarus dabei war), werden von den gesanglich ausdruckstarken und auch darstellerisch sehr engagierten Mezzosopranistinnen Wallis Giunta und Jasmin White gesungen. Sie sind zugleich auch die beiden Leiterinnen des Frauenhauses, die sich für die Verfolgten und Ausgestoßenen einsetzen, mehr Gerechtigkeit für die Armen fordern und mit Texten der um mehr Recht kämpfenden Aktivisten Dorothea Day und César Chavez darauf aufmerksam machen, dass dieser Kampf weitergeht und noch lange nicht gewonnen ist.

Alok Kumar als Lazarus verfügt über eine reiche, volle Stimme und regt dazu an, über die eigenen Chancen auf Auferstehung und Erneuerung nachzudenken, indem man etwas mithilft, die Welt, in der man lebt, zu ändern und lebensfreundlicher zu gestalten.

Hervorragend agiert und singt der von Roger Díaz-Cajamarca, Holger Kristen und Antonio Cuenca Ruiz exzellent einstudierte Chor und Zusatzchor der Volksoper Wien.

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Ensemble im Frauenhaus

Der Regie von Lisenka Heijboer Castanon gelingt es gut, plausibel zu machen, warum die biblische Geschichte von der Aufweckung des toten Lazarus im 1. Teil und von der Passion Jesu im 2. Teil nach der Pause in der heutigen Welt stattfinden kann. So detailreich hätten die Räumlichkeiten des Frauenheims (Bühne, Licht & Video Hendrik Walther) aber dennoch nicht sein müssen, um den Bezug zur Gegenwart zu unterstreichen. Die ziemlich kahle Bühne im 2. Teil war da überzeugender. Da genügen Transparente bei den Aufmärschen vollkommen, um die Aktualität des Geschehens – die Gefangennahme Jesu am Ölberg wird als zeitgenössische Polizei-Razzia dargestellt – zu betonen. Die Szene mit dem herumwandernden, riesengroßen abgehauenen Ohr und dem Polizisten mit einem aufgesetzten Quadratschädel, dem das rechte Ohr fehlt und von dem Blut in Form von rotem Sand auf den Boden rieselt (Kostüme Carmen Schabracq), ist wohl als komischer Gag gedacht, der angesichts des ernsthaften Passionsgeschehens und zur dazu erklingenden Musik vielleicht doch ein nicht ganz so gelungener Einfall ist.

Die in den Rezensionen der Erstaufführung geäußerte Kritik, dass die Aufführung zu lang sei, kann ich nicht teilen. Ich finde, dass sich die Passion von Adams/Sellars ohnehin nur auf das Wichtigste konzentriert. Nämlich darauf, dass sich die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse ändern müssen und dass man etwas dagegen tun muss. Man sieht engagierte Aktivistinnen und Aktivisten am Werk, die von der Polizei verfolgt und eingesperrt werden und dennoch weitermachen. Vor allem aber ist die die Musik so spannungsgeladen und aufrüttelnd, dass man die bei dieser Art von Minimal Music zentralen Wiederholungen mit minimalsten Veränderungen eher als Bereicherung empfinden kann. Der frische Beifall im nicht ausgelasteten Haus scheint das zu bestätigen.

 

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