Das Wiener Staatsballett in der Volksoper
31.3.2017 : „GISELLE ROUGE“ – vom Glück und Elend einer Ballettlegende
Ein theatralisches Effektstück ist dem russischen Choreographen Boris Eifman, Jahrgang 1946, für sein von ihm gegründetes Ensemble, dem international erfolgreichen St. Petersburger Ballett-Theater Boris Eifman, mit „Giselle Rouge“ geglückt. 1997 uraufgeführt und vor zwei Jahren vom Wiener Staatsballett für Aufführungen in der Volksoper einstudiert, ist dieses getanzte Schicksalsdrama nun erfolgreich aufgefrischt worden. Die tragische Lebensgeschichte von Olga Alexandrowa Spessiwzewa (1895 bis 1991), einer der außergewöhnlichen Ballerinen aus der großen russischen Ballett-Epoche des frühen 20. Jahrhunderts und gefeierte Interpretin der Giselle, hat Eifman als Inspirationsquelle zu diesem vielschichtig konstruierten Spektakel gedient. Einer kontrastierenden Musikcollage folgend (Peter I. Tschaikowski: melancholisch untermalend, Alfred Schnittke: dynamisch, skurril), erzählt Eifman in einem Stationentheater im ersten Teil von Spessiwzewas Aufstieg und Erfolgen im zaristischen St. Petersburg. Anfangs auch mit lyrischem Unterton. Doch den Vereinnahmungen sowohl durch einen ihrer Lehrer wie später durch den rücksichtslos verlangenden Sowjet-Kommissar und dessen gewalttätigen Genossen kann sie sich nicht erwehren.
Zu Auszügen aus Georges Bizets „L´Arlésienne“-Suiten erlebt die Ballerina im zweiten Akt die Erfüllung ihrer Karriere in Paris wie auch in den Vereinigten Staaten. Doch wieder erfolgen Schicksalsschläge. Menschliche Enttäuschungen und psychische Verstörungen führen zur Vereinsamung. Nach und nach vollzieht sich eine Identifikation mit dem Leidensweg der Giselle als unglückliche Wili – wieder Musik von Schnittke, schwermütige Melodien von Tschaikowski, zum Ausklang die Wahnsinnsszene aus Adolphe Adams „Giselle“, doch zu schrill verzerrten Klängen.
Eifman gestaltet mit Phantasie, setzt auf Dynamik, gliedert die wechselnden Episoden mit der sicheren Hand eines routiniert kalkulierenden dramatischen Erzählers. Ausstatter Wiacheslav Okunev bietet ihm dazu rasche Szenenwechsel, um immer wieder Effekte zu ermöglichen. Turbulente Sequenzen des kompakt geführten Ensembles wechseln mit fordernden, die verschiedensten Ausdrucksmöglichkeiten auskostenden Pas de deux, und er führt die Solisten zu markigen Charakterzeichnungen. Aufblühende Gefühle, Seelenkälte, Abhängigkeit, Schmerzausbrüche – alles wird, wohl auch durchaus spekulativ eingesetzt, kraftvoll geschildert.
Nina Polaková mimt die Titelrolle nicht mit dem Flair einer große Ballerina, sondern ist eine Suchende, zeigt Hilflosigkeit, innere Zerrissenheit, Verletzlichkeit, Verzweiflung, versinkt schließlich in Wahnsinn. Teils sensibel, teils mit plakativem Zuschnitt sind ihre Kontrahenten gezeichnet: Kamil Pavelka als ihr Ballettlehrer, Vladimir Shishov als der sie schonungslos fordernde Sowjet-Kommissar, Robert Gabdullin als der von ihr geliebte Tanzpartner mit homoerotischer Neigung. Das Orchester unter Dirigent Andreas Schüller meistert korrekt die wechselvollen Pfade zwischen Tschaikowski und Schnittke. Auf ihrem Lebensweg ist diese russische, die „Rote Giselle“, kein Glückskind. Die Illusion einer Verzauberung durch den Tanz wird durch brutale Realität zerstört.
Meinhard Rüdenauer