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WIEN / Volksoper: Musical TICK, TICK… BOOM

Ein Musical bringt Publikum und Volksoper zum Rocken

09.11.2023 | Operette/Musical
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Jakob Semotan (Jon) und Oliver Liebl (Michael). Alle Fotos: Volksoper Wien / Barbara Pálffy

WIEN / Volksoper: Musical TICK, TICK… BOOM!

2. Aufführung (Premiere 28. Oktober 2029

8. November 2023

Von Manfred A. Schmid

Den ehrgeizigen Anspruch, in ihrer ersten Saison an der Volksoper zu zeigen, wie die Operette im 21. Jahrhundert aussehen könnte, konnte Lotte de Beer mit der merkwürdigen „Mythos-Operette“ Die letzte Verschwörung von Moritz Eggert nicht einlösen. Wenn das die Operette der Zukunft sein soll, dann Gute Nacht! Mehr Erfolg hat de Beer in ihrer zweiten Saison auf dem Musicalsector. Jonathan Larsons tick, tick… Boom! Ist zwar auch nicht gerade der letzte Schrei, sondern entstand in seiner Urfassung, geprägt von der Rockmusik der späten 1980er Jahre, schon vor fast 35 Jahren. Neu ist aber, dass die Volksoper mit diesem Werk nicht auf eines der glattpolierten, aufwändig ausgestatteten und einem breiten Geschmack angepassten Broadway-Musical setzt, denn die gibt es ohnehin bei den Wiener Musicalbühnen Ronacher und Raimundtheater en masse, wie Rebecca und Der Glöckner von Notre Dame gerade beweisen. tick, tick… Boom! Ist hingegen ein originelles Werk, das für den Off-Broadway gedacht war, aber auch für diesen zunächst als fast zu unkonventionell empfunden worden, inzwischen aber bereits verfilmt wurde. Der Volksoper ist es damit gelungen, neue Zuschauerschichten in ein Haus zu locken, das lange als Pensionistenzirkel verschrien war. Junge, begeistert johlende Menschen sind in der deutlichen Überzahl. Etwas, wovon de Beers Kollege im Haus am Ring, der das auch als Ziel ausgerufen hat und viel dafür investiert, nur träumen kann.

Im Mittelpunkt von tick, tick… Boom steht der Komponist und Autor Jon, der knapp vor seinem 30. Geburtstag von der Angst geplagt wird, dass ihm die Zeit davonläuft, sich im Showgeschäft einen Namen zu machen. Alle bisherigen Versuche sind gescheitert, er frettet sich mit Jobs bei einem Diner durch, so dass er zu zweifeln beginnt, ob er wirklich zum Künstler berufen ist.  Dazu kommen Probleme mit seiner Freundin , der Tänzerin Susan, die ebenfalls keine Auftritte hat, sich mit Tanzstunden über Wasser hält, am liebsten aber von  New York aufs Land ziehen würde, um dort mit Haus, Garten und Kindern ein neues Leben an einer Seite zu beginnen. Jakob Semotan, im Ensemble der Volksoper bisher vor allem in komischen Operettenrollen erfolgreich, zeigt als Jon, dass in ihm mehr steckt als der Dritte-Akt-Komiker. Er agiert geradezu sensationell gut. Semotans Jon ist von Sorgen geplagt, aber auch von Leidenschaft angespornt, so dass er nicht so leicht aufgeben und zuletzt wohl auch den Durchbruch schaffen wird. Schon sein großer Eröffnungsmonolog (Inszenierung Frédéric Buhr) richtet sich an das Publikum, an das er sich im weiteren Verlauf immer wieder wenden wird, teils sarkastisch, teils verunsichert, oft aber auch total überzeugt. Ein wahrer Theaterfreak, der sich neben seinen Karriereplänen aber auch intensiv um seine Braut und seinen Freund Michael kümmert, auch wenn das manchmal fast zu stressig wird: Wenn er etwa Michael, der ein begabter, wenn auch erfolgloser Schauspieler ist, aber längst in die Werbebrache abgewandert ist, zum Flughafen bringen soll. Semotan verfügt über eine ausgezeichnete Musical-Stimme, die er gekonnt einzusetzen weiß, und überzeugt auch darstellerisch. Wenn Jon den Namen seines großen Vorbilds und Förderers Stephen Sondheim ausspricht, dann flüstert er vor Ehrfurcht.

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Juliette Khalil (Susan, hier als Karessa)

Juliette Khalil kann als Jons quirlige Freundin Susan ihr vielseitiges Gesangs- und Darstellungstalent zur Schau stellen und brilliert auch in weiteren Rollen, die ihr anvertraut sind: als Karessa, der Erotik ausstrahlende Star in Jons Workshop-Musical Suburbia, und als Jons Agentin Rosa.

Auch Oliver Liebl tritt nicht nur als Michael, Jons Freund seit Kindestagen, auf, der seinem Künstlerdasein längst Ade gesagt hat, sondern auch als Verkäufer sowie Jons Vater. Richtig herzzerreißend ist die Szene, in der Michael Jon erzählt, dass er HIV-positiv sei, was Anfang der 90er Jahre noch einem Todesurteil gleichkam. Beide kämpfen mit Tränen und wirken wie vom Schock gelähmt. Es gibt aber auch komische Szenen, wenn etwa Jon im Supermarkt einen Lolly kaufen will und sich dafür, vor den Augen einer jungen Frau, gespielt von Khalil, schämt.

Für die fetzig-laute Rockmusik, die nicht jedermanns Sache sein muss, hier aber auf viele dankbare Ohren trifft und links und rechts hinter der zweckmäßigen Bühne von Agnes Hasun verteilt ist, sind Christian Frank (Bandleader), Felix Reischl (Gitarre), Marlene Lacherstorfer (Bass) und Mario Stübler am Schlagzeug verantwortlich.

Jonathan Larsons Musical ist zum Teil durchaus autobiographisch angelegt. Tragisch, dass er seinen Durchbruch mit dem Erfolgsmusical Rent nicht mehr erleben konnte, sondern am 25. Jänner 1996, einen Tag vor der Premiere starb. Das Musical tick, tick… Boom, das Larson zuvor als Einpersonenstück selbst auf kleinen New Yorker Bühnen vortrug, wurde erst nach seinem Tod zu einem Dreipersonen-Stück umgearbeitet und als Vorgeschichte zu seinem Hit Rent geschätzt.

Orkanartigen, selbstverständlich stehendenApplaus, mit dazugehörigem Schreien und Stanpfen, gibt es in der Volksoper für das thematisch an Puccinis La Bohème erinnernde Musical im rockigen Künstlermilieu. Das hat eingeschlagen. Aber Wie: Boom!

 

 

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