Volksoper: „Jolanthe und der Nussknacker“ – ein aufforderndes Spiel mit der Phantasie (9.10.2022)
Copyright: Wiener Volksoper
Nun auf zur Expedition in die Opernwelt unter dem Logo Lotte de Beer! De Beer, die Jungchefin an der Wiener Volksoper, hat erstmals im Haus ihre Handschrift als Regiedame vorgezeigt. Spielfreudig, interessant. „Jolanthe und der Nussknacker“ ist ihre erste eigene Inszenierung betitelt. ‚Musiktheater für die ganze Familie‘ steht darunter. Allzu Junge sollten dabei doch ausgenommen werden – Jolanthe, die als Blinde geborene Prinzessin, ist daran schuld.
1892 wurden Peter Iljitsch Tschaikowskis ungemein verinnerlichter lyrische Operneinakter „Jolanthe“ und das so bunt gefärbte „Nussknacker“-Ballett in St. Petersburg auf Wunsch des Komponisten an einem Abend uraufgeführt. Getrennt. Gemeinsam mit dem neuen Volksopern-Musikchef Omer Meir Wellber und Choreograph Andrey Kaydanovskiy wagte de Beer beide Werke zu verschränken, ineinander zu verweben, ein Lehrstück zu kreieren. Ihr Motto dazu: „Es kommt im Leben eine Zeit, in der man sich entscheiden muss, ob man eine blinde Prinzessin bleiben oder die Welt in ihrer ganzen Unvollkommenheit sehen will.“ Jolanthes Heilung ist bei Tschaikowski gegeben, und in der Volksoper kann sich mit Hilfe der Musik sehr wohl auch fein besaitete Berührung einstellen.
Mit der spritzigen Ouverture miniature des „Nussknacker“ beginnt das insgesamt eher besinnliche Spiel, mit den Freuden aller rund um die nun sehend gewordene Prinzessin endet es. Die Moll-Töne der seelisch sehr empfindsam erzählenden Oper – kein Reißer, immer sehr intim und somit auch nicht gerade kindgerecht – haben doch die Oberhand über die eingeschobenen Balletteinlagen. Kaydanovskiy orientiert sich auf der total einfach und eher dunkel gehaltenen Bühne (Katrin Lea Tag) in seiner tänzerischen Gestaltung mehr an die theatralische Konzeption als an das melodische Aufrauschen des Blumenwalzers oder anderer eingeflochtener Ballettzaubereien. Mit sich in Weiß wiegenden Blumen, Mäuschen, einem lockenden Kaninchen oder dem stattlichen Prinz Nussknacker (Kostüme: Jorine van Beek) wird in Jolanthes Traumwelt die Phantasie angesprochen: es wirkt. Und mit dem sanft wiegenden Arabischen Tanz beginnt der Prozess zur Genesung ihres Augenlichtes.
Ja, auch der Besucher muss seiner Phantasie einen Anstoß geben. Musikmixer Wellber und das Orchester können dabei helfen. Ebenso die feinen Tänzer mit Mila Schmidt als ätherische Jolanthe-Traumfigur. Wunschstimmen finden sich unter den Sängern zwar keine, ergreifen vermag aber Olesya Golovneva mit bewegendem Ausdruck sehr wohl. Ebenfalls charaktervoll rund um sie Stefan Cerny als königlicher Vater – in der historischen Provence sei´s so gewesen, hier trägt man aber bloß Alltagskluft – , Geory Vasiliev (ein burgundischer Ritter) und Szymon Komasa als heilender arabischer Arzt. Sehr positiv einzuschätzen ist der Abend, Kreativpotenzial scheint gegeben zu sein. Und somit könnte de Beers frisch angetretene Opernweltreise am erwarteten Ziel angelangen.
Meinhard Rüdenauer