
Daniel Kluge (Pedrillo) und Stefan Cerny (Osmin). Alle Fotos: Volksoper Wien / Barbara Pálffy
WIEN / Volksoper: DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL
4. Aufführung in dieser Inszenierung
26. Juni 2023
Von Manfred A. Schmid
Dass Mozarts Die Entführung aus dem Serail eine problematische Oper ist, hat sich längst herumgesprochen. Die Musik ist großartig, aber das Libretto schwach und die Darstellung der Türken wenig schmeichelhaft. Jedenfalls alles andere als politically correct. Was zur Zeit der Uraufführung, weniger als hundert Jahre nach der Belagerung Wiens durch die Osmanen, noch reizvoll und exotisch angemutet haben dürfte, wirkt heute nur noch peinlich. Eklatante dramaturgische Schwächen kommen noch dazu. Da es sich zum Glück aber um ein Singspiel mit Dialogen handelt und nicht um eine Oper mit Rezitativen, ist es ziemlich einfach, mit der Handlung zu spielen und den Text nach Belieben zu verändern und zu erweitern. Letzteres wird in der Neuinszenierung von Nurkan Erpulat ausgiebig betrieben, der Sulaiman Masomi mit der Erstellung einer Textfassung für die Volksoper beauftragt hat. Alle denkbaren Klischees und Stereotypen eines culture clash werden durchgespielt und sollen so entlarvt und lächerlich gemacht werden. Ein ehrgeiziges Vorhaben, das in der regielichen Umsetzung leider scheitert.
Die elendslange finale Abrechnung, die der aufgeklärte Fürst Selim an Ende vornimmt, ist – wie mit erigiertem Zeigefinger und in belehrendem Ton vorgetragen – letztlich nur eine Phrasendrescherei und eine ziemliche Zumutung. Da war die 2020 am Genfer Grand Théatre dargebotene Textfassung durch die türkische Menschenrechtsaktivistin Aslı Erdoğan ertragreicher, weil sie nicht pauschalierend auf alle möglichen Konflikte aus Vergangenheit und Gegenwart einging, sondern ihre eigene Situation als in Österreich lebende Exilantin, die in ihrer Heimat Türkei monatelang inhaftiert war, zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen machte. Da ging es dann vor allem um die Einsamkeit im Leben in einem fernen Land. Das lässt sich nachvollziehen. Die moralinsauren Vorhaltungen Selims nicht. Und die in Kriegsbemalung und bis an die Zähne bewaffnet auftretende Armee (Kostüme Aleksandra Kica) schon gar nicht.

Stefan Cerny (Osymin) und Hedwig Ritter (Blonde).
Wenig inspiriert präsentiert sich auch das Bühnenbild von Magda Willi. Die begehbare aufgeschnittene Feige, die vermutlich Sinnlichkeit darstellen sollte, aber eher an eine Riesenportion Hackfleisch erinnert, hätte man besser gleich durch einen rohen Kebabspieß ersetzen können.
Musikalisch ist die Aufführung ziemlich unausgeglichen. Am überzeugendsten, wenn auch etwas konventionell, ist das Orchester unter der Leitung des erfahrenen Kapellmeisters Alfred Eschwé. Von der mitreißenden Janitscharenmusik in der Ouvertüre bis zum komplexen Chorfinale verströmt hier die sprudelnde Energie der Partitur und lässt etwas von dem großen Spaß ahnen, den Mozart bei der Arbeit wohl gehabt haben muss. Auch die Spannungen in den Beziehungen der sechs Charaktere lassen sich immer wieder heraushören. Am deutlichsten in den Begegnungen Konstanzes mit dem mächtigen Pascha, die in ihrer Ambivalenz in dieser Inszenierung – es kommt sogar zu einer innigen Kussszene – besonders ausgearbeitet ist.
Stimmlich ist die aufgebotene Besetzung allerdings eher enttäuschend. Timothy Fallons lyrischer Tenor klingt für den Möchtegern-Retter Belmonte etwas zu zirpend. Durch sein komödiantisches Auftreten, das mehr an einen Charaktertenor erinnert, verwischt er zudem die Abgrenzung zwischen dem ernster angelegten Trio Konstanze-Selim-Belmonte und dem komischen Dreigespann Blonde-Pedrillo-Osmin.
Rebeccas Nelsen ist ein eine annehmbare Besetzung für die schwierige Partie der Konstanze, die die Koloraturen recht gut meistert, den stimmlichen Glanz aber vermissen lässt. Nach der Pause wird sie als – auf ihren Wunsch – als indisponiert angesagt, singt aber immerhin bis zu Ende weiter.
Darstellerisch gut ist die Blonde von Hedwig Ritter, die aber in der Höhe bald schrill klingt und in der Mittellage etwas hektisch wirkt. Der Registerwechsel in „Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln“ geht nicht gerade glatt über die Bühne.
Daniel Kluge ist ein witziger, stimmlich noch ausbaubedürftiger Pedrillo. Murat Seven in der Sprechrolle von Pascha Selim ein nobler, Autorität ausstrahlender, in der Regie von Nurkan Erpulat etwas zu geschwätzig lehrmeisternder Fürst.
Stefan Cerny, dessen Osmin in den Premierenkritiken unisono als Ereignis gefeiert wurde, ist an diesem Abend auf der Bühne zwar ein – wie erwartet – großartiger Darsteller und mit seiner enormen, einnehmenden Bühnenpräsenz erneut der charismatische, etwas geheimnisvolle, unergründliche Mittelpunkt der Aufführung, muss aber diesmal im Orchestergraben gesanglich durch den kurzfristig einspringenden Ante Jerkunica ersetzt werden, weil ein Leistenbruch Schonung verlangt. Jerkunica verfügt über einen eindrucksvoll großen Bass und zeigt sich auch den extremen Tiefen dieser Rolle jederzeit gewachsen. Eine gute Lösung in einer schwierigen Situation, für die man dankbar ist.
Dankbar zeigt sich auch das Publikum. In den freundlichen Applaus mischen sich zwei Buhrufe. Insgesamt aber scheint man mit dem Dargebotenen zufrieden zu sein. Ein paar Besucher sind nach der Pause allerdings nicht mehr wiedergekommen.