„Va-t’en! Va-t’en!“ – George Bizets „Carmen“ an der Volksoper Wien, Aufführung vom 11. Oktober 2024
Foto: Barbara Palffy/Volksoper
„Rauchen verboten! Sprechen verboten! Singen verboten! Tanzen verboten!“ Diese Verbote sind im Hintergrund der Zigarettenfabrik zu sehen, während die Ouvertüre von Carmen an der Wiener Volksoper erklingt. Zuvor hatte Frau de Beer mittels Ansage vom Band sich noch darüber lustig gemacht, daß zwar Zigarettenrauch auf der Bühne verboten sei, nicht jedoch das Zeigen von Femizid. So entnehmen wir dem Programmheft auch, daß es ein Abend werden soll, der sich mit Geschlechtspolitik beschäftigen soll. Wir wundern uns über dieses Paradoxon, denn ist das Zeigen eines Femizids nicht genauso verherrlichend wie eben das Rauchen auf der Bühne? Entspräche es nicht viel mehr dem Verbotscharakter der Grünen Partei, deren Staatssekretärin Andrea Mayer unlängst Frau de Beers Vertrag um fünf weitere Jahre verlängerte und deren Programmatik sich die Volksoper unter Lotte de Beer voll und ganz verschrieben hat, diese sexistische, antifeministische und durch und durch reaktionäre Oper Carmen überhaupt vom Spielplan zu streichen? Es ist also alles nicht ganz konsistent, was hier angekündigt wird, und die Unausgegorenheit jener Ideenwelt spiegelt sich dann auch alsbald in dem wider, was wir an diesem Abend in der Volksoper erleben.
Das eigentlich recht ansprechende Bühnenbild, welches wir bereits in der Ouvertüre sehen, zeigt die Arbeiterinnen in der Zigarettenfabrik bei ihrer Arbeit. Zum Ende hin beginnt Carmen dann lustvoll, die Kisten durcheinanderzuschmeißen. Ein Akt zivilen Ungehorsams also. Doch mehr noch: Der Vorhang fällt erneut nach der Ouvertüre, Carmen tritt vor diesen und entledigt sich ihres Kleides. Unter diesem trägt sie von nun an einen schwarzen Jumpsuit, in welchem sie mehr an Lotte de Beer selbst erinnert, die häufig in einem solchen Kleidungsstück zu sehen ist. Wieviel Carmen sie in sich selbst sieht, bleibt dahingestellt, vielleicht möchte sie aber damit auch nur dem Publikum signalisieren, daß wir hier ihre Lesart von Carmen sehen. Naja, no na, schließlich zeichnet sie für die Regie verantwortlich. Auch im ersten Akt ist das Bühnenbild dann jedenfalls weiter farbenfroh, Gleiches gilt für die Kostüme, die aus dem Fundus der Volksoper stammen und die zweifelslos im Großen und Ganzen gut passen. Carmen beginnt bald damit, jene heile Idylle weiter zu stören, die Kulissen umzudrehen oder umzuschmeißen. Dies geschieht permanent den ganzen Abend lang und soll wohl die zielgerichtete Dekonstruktion der Theaterwelt signalisieren. Nur wozu? Dekonstruktion um der Dekonstruktion willen? Sinn und Ziel erschließen sich ebenso wenig wie der Nutzen der hinzugefügten deutschsprachigen Dialoge. Letztere stören vielmehr den musikalischen Fluss, und wir fragen uns, ob wir nicht doch in einer Operette gelandet sind? Zumindest den Kostümen nach könnte es ja auch der Zigeunerbaron sein. Und natürlich werden wieder recht flache und lahme Witze eingebaut, so wie das neuerdings an der Volksoper ja gerne gemacht wird. Da werden dann die Zigaretten der Zigarettendreherinnen eingesammelt und nochmals mit einem Schild auf das Rauchverbot hingewiesen. Lustig ist das eher nicht, vielmehr schämen wir uns für einen solchen „Humor“ eher fremd.
Musikalisch läßt sich der Abend nicht so schlecht an, Dirigent Tobias Wögerer läßt die Ouvertüre nicht zu hektisch, aber durchaus farbenfroh beginnen. Das Orchester der Volksoper klingt lyrisch, fast tänzelnd. Die Habanera von Annelie Sophie Müller beginnt ebenfalls angenehm timbriert, fast spöttisch und verächtlich schaut sie auf die etablierte Gesellschaft herunter. Bald jedoch tendiert sie etwas ins Altbackene, ja fast Anstrengende zu klingen, im Verlauf des Abends wird ihr Vibrato zunehmend größer. Auch Tomislav Mužek schwächelt an diesem Abend und beginnt bereits zum Ende des Duetts „Parle-moi de ma mère“ zu pressen.
Zunehmend fehlt es dem Abend dann an Spritzigkeit, sowohl was die Originalität als auch die musikalische Gestaltung angeht, hinzu kommt zunehmende Unsauberkeit im Gesang.
Zwar zeigt der 2. Akt dann zunächst einen ansprechenden Sternenhimmel, jedoch verringert sich das musikalische Tempo signifikant, jedwede Synkopierung fehlt, und das Orchester erinnert an eine Mischung aus Schlaflied und Csárdás – von Mulatschak jedoch weit und breit keine Spur.
Auch Daniel Schmutzhard als Don Escamillo kann dem Abend keinen neuen Schwung verleihen. Vielmehr wirkt er wie ein hundertjähriger Danilo, dem selbst Johannes „Joopie“ Heesters in seinen letzten Jahren den Schneid abgekauft hätte. Das alles erstaunt insofern kurz, da sowohl die Stimmen auf der Bühne als auch das Orchester in der Vergangenheit oftmals Gegenteiliges bewiesen haben. Doch heute erleben wir einen musikalischen Hund ohne Zähne, oder vielleicht auch einen, der sein Gebiß verlegt hat.
Herr Mužek knödelt schließlich die Blumenarie leidenschaftslos herunter, der Applaus im Publikum ist fast schon marginal zu nennen, und der darauffolgende Applaus Carmens wirkt entsprechend ungewollt komisch. Daß dann der Vorhang, welcher den Sternenhimmel mit zahlreichen kleinen LEDs zeigt, zum Ende des 2. Aktes nicht wie geplant vollständig herunterfällt und somit nur einen Bruchteil der dahinter aufgebauten Theaterlogen entblößt, ist dann von noch größerer Ironie. Laut Frau Lotte de Beer soll damit gezeigt werden, daß Carmen als Kunstfigur des 19. Jahrhunderts nur dazu dient, das unterdrückerische Publikum zu belustigen und natürlich als gesellschaftliche Rebellin, ja als sich emanzipierende Frau sterben zu müssen, damit alles wieder in Ordnung ist. Nur funktioniert das eben genauso wenig wie der nicht herabfallende Vorhang. Wenn Lotte de Beer also mit dieser Produktion ihr eigenes Verständnis jener „Liberté“ zeigen will, die Carmen sucht, ist das, was wir hier sehen, weniger ein wildes Leben in den Bergen, sondern vielmehr ein Spieleabend mit Raclette in einer Doppelhaushälfte in einem Vorort von Castrop-Rauxel oder Bielefeld.
Aus Angst einzuschlafen, folgen wir den Worten Carmens „Va-t’en! Va-t’en!“, verlassen in der Pause die Volksoper und entscheiden uns für einen Negroni und ein Glas Franciacorta. Beide boten jedenfalls mehr Aufregung als dieser ausgemacht langweilige Abend.
E.A.L.