WIEN / Volksoper: CARMEN
4. Aufführung in dieser Inszenierung
3. Oktober 2024 (Premiere 21. September)
Von Manfred A. Schmid
Eine Neuinszenierung, die bei der Premiere von der Kritik einhellig waidwund geschossen worden war. Was macht man als Rezensent da in der vierten Aufführung? Verabreicht man ihr den erlösenden Gnadenschuss? Geht nicht. Steht ja weiter auf dem Spielplan und wird dort wohl bis zum Ende der Direktionszeit Lotte de Beers bleiben. Auf rund 200 Aufführungen, wie sie der Vorgängerinszenierung zuteilwurden, wird sie es aber kaum schaffen. Dafür ist ihr Regiekonzept zu dreist und dessen Umsetzung zu derb und plump. Das war zumindest die Einschätzung der Rezensierenden. Nun aber kommt das Unerwartete und Schreckliche für die Regie: Vom Adressaten aller Bemühungen, dem Publikum, wird das Konzept erst gar nicht wahrgenommen. Es fühlt sich, wie man im Zuschauerraum miterleben kann, von Lotte de Beers Unterstellung, begierig auf das verdiente Ende Carmens zu sein, Carmen in den Tod treiben zu wollen, um hautnah, sensationsgeil und zufrieden bei der gerechten Abstrafung ihrer Ausbruchsversuche aus den gesellschaftlichen Konventionen dabei sein zu können, nicht angesprochen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sehen sich in den Menschen, die im Hintergrund der Bühne in Logen das Geschehen verfolgen, nicht abgebildet. Die „Publikumsbeschimpfung“ durch die Direktorin nehmen sie einfach nicht zur Kenntnis: Wir sind nicht so. Punkt.
Die Fehleinschätzung ihres Publikums und das dramaturgische Scheitern, dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten, ist eine peinliche Verfehlung ihres Ziels und damit das Schlimmste, was einer Regisseurin widerfahren kann. Die Bestrafung folgt auf dem Fuß. Das Publikum wird weiter in die Vorstellungen kommen, gerne klatschen und wird die Oper Carmen jedenfalls weiterhin mit anderen Augen sehen, als Lotte de Beer sich das gewünscht hätte. Sie kommen nicht wegen ihrer Regie, sondern trotz ihrer Regie – oder, schlimmer noch: ihre Regie wird erst gar nicht wahrgenommen, sondern einfach ignoriert. Man kommt wegen der Oper Carmen und wegen der grandiosen Musik. Wozu dann der ganze Aufwand? Wozu der lächerliche Griff in die Mottenkiste des Regietheaters mit dem schon längst überstrapazierten Theater-im-Theater-Kniff? Das Umdrehen der Kulisse, um deren Hinterteil zu zeigen und zu demonstrieren: Das ist alles nur Theater, von Männern gemachtes Theater. Im vorliegenden Fall von Christof Hetzer, dessen handgemalte Kulissenwände bei einem Wochenendkurs an der Volkshochschule entstanden sein könnten. Was es im ersten und zweiten Akt, bis zur wichtig gemeinten Offenbarung der Theaterlogen auf der Bühne, zu sehen gibt, erinnert an Aufführungen, wie man sie vor gut 50 Jahren auf Provinzbühnen zu sehen bekam. Das also kommt heraus, wenn die Grinsekatze vom Währinger Gürtel ihrer feministischen Krallen ausfährt: Dass Carmen den Don José erschießt? Das hatten wir schon. Also versucht Lotte de Beer gleich die ganze Oper zu killen, indem sie deren archaischen, von Männerdominanz geprägte Struktur entlarvt und dabei auch Bizet und seine Librettisten als geile Voyeure kenntlich macht. An Ende aber bleibt nur die Erkenntnis, dass die Macht der Oper stärker ist als noch so abwegige oder aufgezwungene Interpretationsbemühungen.
Und die Erkenntnis, dass Lotte de Beer Rollen gerne anders besetzt als gewohnt. Auf das Greisenpaar in Die lustige Witwe folgt nun die stramm in einen schwarzgrauen Hosenanzug gesteckte, gestiefelte Carmen. Nur die Gerte fehlt, aber dafür ist Katia Ledoux doch eine Spur zu liebenswürdig und kommt beim Publikum deshalb auch recht gut an. Nicht zuletzt wohl auch, weil man vorgeführt bekommt, dass man es zu etwas bringen kann, auch wenn man nicht der Norm entspricht. Eine überaus tröstliche Erfahrung. Musikalisch gibt es einen gemischten, insgesamt recht guten Befund. Ledoux kann mit ihrem funkelnden Mezzo und ihrer Darstellungskunst der Carmen ein eigenes, recht überzeugendes Profil verleihen. Anders verführerisch, aber doch.
Da Tomislav Muzek wegen eines akuten Infekts kurzfristig ersetzt werden musste und keine Zeit für eine Stellungsprobe zur Verfügung stand, wird vor Beginn der Vorstellung bekanntgeben, dass es für den Don José an diesem Abend gleich zwei Einspringer gibt: Der Abendspielleiter Frederic Buhr steht auf Akteur auf der Bühne, während der Tenor Jason Kim in der Einserloge auf der rechten Seite dem Don José seine helle und schöne Stimme verleiht. Die Aufführung ist mehr als zufriedenstellend gerettet, was mit verdientem Applaus bedacht wird
Julia Maria Dan als Micaela ist eine anmutige Unschuld vom Lande und gefällt, auch wenn sie stimmlich zuweilen etwas scharf klingt. Josef Wagner als Escamillo bemüht sich um ein viriles Auftreten und tiefe Töne, was ihm auch irgendwie gelingt.
Als quicklebendig sprühende halbseidige Damen Fraquita und Mercédès treten Alexandra Flood und Sofia Vinnik gewinnend in Erscheinung. Recht spielfreudig agieren auch Pablo Santa Cruz und Modestas Sedlevicius als Soldaten Zuniga und Moralés.
Marco Di Sapia holt aus der Rolle des Schmugglers Dancairo mehr an Komik heraus. als im Libretto vorgesehen ist, Karl-Michael Ebner als Remendado ist sein stets seiner Macht bewusster Chef.
Ben Glassberg am Pult hat offenbar seine Hetzjagd durch die Partitur, wie bei der Premiere mehrfach moniert, etwas entschleunigt, führt aber immer noch recht zügig durch den Abend, an dem auch Chor, Zusatzchor sowie der famose Kinderchor sehr gefordert sind und alle Erwartungen gut erfüllen.
Viel Applaus, nur vereinzelte, nicht sehr laute Buhrufe für Ledoux, Glassberg und wohl auch für die Regie, die aber, wie oben erläutert, eher gar nicht zur Kenntnis genommen und daher nicht einmal einer merklichen Empörung für würdig befunden wird. Peinlich, dass erst vor kurzem die Staatsoper die Saison mit der exzellenten sozialkritischen Carmen Bieitos eröffnet hat. Der Vergleich fällt mager aus. Aber davon lässt sich Lotte de Beer nicht entmutigen und hat vor, demnächst auch Barrie Koskys Le nozze di Figaro zum Duell herauszufordern.