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WIEN/Theater an der Wien: LES BORÉADES, die letzte Oper des Jean Philippe RAMEAU, konzertante Aufführung

Über den Instinkt für den Swing dieser Musik

23.01.2020 | Oper


Collegium 1704, Collegium Vocale 1704 mit Vaclav Luks (Mitte). C: Petra Hajska

 

WIEN/Theater an der Wien: LES BORÉADES, die letzte Oper des Jean Philippe RAMEAU, konzertante Aufführung

Über den Instinkt für den Swing dieser Musik

22.1. 2020 – Karl Masek

1762 machte sich der knapp 80-jährige  Jean Philippe Rameau (1683 – 1764) daran, für Ludwig XV. ein letztes Mal eine Oper zu komponieren. Und es hat bis heute den Anschein, der Schöpfer dieses Opus summum habe sich nur mehr wenig um die strengen spätbarocken Konventionen, um den Verhaltenskodex am Französischen Königshof, gekümmert.

Schon die Auswahl des Sujets hat einen Hauch von Umstürzlertum:  Königin Alphise liebt einen Bürgerlichen namens Abaris (vorerst „unbekannter Herkunft“) und lehnt die beiden Nachfahren des Boreas (dem Gott der Nordwinde) als Heiratskandidaten ab. Dafür entsagt sie sogar der Krone, wird aber von ihrem treu ergebenen Volk auf den Thron zurückgerufen. Das erregt den Zorn des Boreas. Alphise wird entführt , das Land durch Unwetter verwüstet. Was Rameau die Gelegenheit zu einer kühnen, wilden Gewitter- und Sturmmusik, inklusive Windmaschine, gibt. Gott Apollo „outet“ sich schlussendlich (weil auch hier muss es ein Lieto fine geben): Alles war nur eine Prüfung. Abaris sei sein Sohn, und dieser stammt aus der Verbindung Apollos mit einer Nymphe vom Stamme des Boreas. Also kein Bürgerlicher, sondern von göttlichem Geblüt, so halb zumindest…

Ludwig XV. hat das neue, „un-erhörte“ Werk nie zu hören bekommen, angeblich wegen einer gelungenen Intrige der Pompadour, sie hatte die Premiere verhindert. Beim zweiten Anlauf für die Uraufführung, 1764,  starb schließlich Rameau, die Proben wurden abgebrochen – und das Werk geriet über 200 Jahre in Vergessenheit. Auch der Komponist hat also sein Werk nie auf der Bühne zu sehen bekommen. Bis es schließlich 1974 zur späten konzertanten Uraufführung  in London kam (Dirigent John Eliot Gardiner war der musikalische Schatzgräber, er hat auch die erste szenische Aufführung 1982 in Aix-en-Provence geleitet). Der junge Simon Rattle saß im Publikum, war „hin & weg“ über diese „ungeheuer sexy daherkommende Musik“, wie er sich flott und flapsig ausdrückte. Er führte, vom Rameau-Virus nachhaltig infiziert, das Werk szenisch bei den Salzburger Pfingst- und Sommerfestspielen 1999 auf (mit Barbara Bonney als Alphise). Es folgten u.a. die Opera National de Paris mit William Christie und seinem Ensemble Les Art Florissants in einer Inszenierung von Robert Carsen.

Im Theater an der Wien belässt man es bei einer konzertanten Realisierung des Meisterwerkes. Václav Luks leitete das von ihm gegründete Prager Orchester Collegium 1704 mit energischem Zugriff, ließ akzentuiert, auch saftig aufspielen. Mit der Ouvertüre fällt Rameau sozusagen gleich mit der Tür ins Haus, hält sich nicht mit einer damals obligaten Herrscherhuldigung in Form eines allegorischen Prologs auf. Das Orchester musizierte mit  dem Instinkt für den Swing dieser Musik, einem Füllhorn an Inspiration und überbordend von überraschenden Ideen. Die Naturhörner haben anfangs einen besonders herausfordernden Part, schmettern rustikal und – Kompliment !- einen Abend lang beinahe „unfallfrei“.

Im Gegensatz zu „Barockopern in Form einer Perlenkette“ (Arien, Rezitative, Arien, Rezitative –  in vorhersehbarer Form wie etwa bei G.F. Händel) ist die Anordnung des musikalischen Ablaufes kleinteiliger. Kurz und abwechslungsreich sind die Puzzleteile. Immer wieder gibt es Tanzeinlagen (oder Entractes), welche die Aufmerksamkeit eines damaligen Publikums bei Hofe, das sich nur für kurze Zeit konzentrieren konnte (!), wieder auf einen neuen Eindruck lenken sollte.

Eine Aufwärmphase, wie um die Akustik im vollbesetzten Auditorium nochmals zu testen, musste man dem Ensemble und dem Dirigenten schon zugestehen. Sehr rasch schwang man sich jedoch zu einer superben Wiedergabe auf. Die Klangfarben wurden immer raffinierter. Es war ein Genuss, etwa  den beiden Flötistinnen, zuzuhören, wie sie mit Lust und Leidenschaft musizierten, die speziellen Überraschungseffekte, die aparte Sinnlichkeit, ja, die Erotik, dieser Musik auskosteten (Rattle lag mit seiner Wortwahl durchaus richtig, würde ich meinen), Motive und Echowirkungen aufnahmen und die „Motivbälle“ virtuos weiterspielten. Eine Ovation für Julie Braná und Lucie Duškova!

Aber auch die beiden Oboen, die beiden Fagotte, bewegten sich in himmlischen Regionen. Der Streicherchor klang feingliedrig, pastos, rustikal, bukolisch – ganz wie es die jeweiligen Situationen verlangten. Wenn sich die Streicher mit den Fagotten mischten, um die „milden Westwinde“ zu imaginieren, das hatte magische Wirkung! Und dann der Multi-Percussionist, Michael Metzler! Er war der virtuose „Wettermacher“, für Nord- und Westwinde, Sturm, Gewitter und Erdbeben im Orchester zuständig –  war der Protagonist für die fast avantgardistisch anmutenden Kunststücke mit perfekter Handhabung der Windmaschine oder mehrerer Instrumente gleichzeitig. Man steigerte sich bis zur wirbelnden, accellerando-seligen Schluss-Stretta geradezu in einen Spielrausch. Der Jubel des Publikums war für das Orchester und den Dirigenten besonders lautstark!

Bevor ich zu den Solist/innen komme, auch eine kleine Hymne für das Collegium Vocale 1704. Der 18-köpfige Chor (gleichfalls aus Prag, und von Luks begründet) bestach durch Kraft, Homogenität, außerordentliche Bandbreite in Dynamik und Ausdruck und ausgesprochen schöne Stimmen. Zwei Nymphen, sowie „L’Amour“ und „Polymnie“ wurden von den Chormitgliedern Anna Zawisza, Tereza Maličkayová, Helena Hozová und Pavla Radostová mit kristallklaren Stimmen hervorragend gesungen! Würde mich nicht wundern, wenn man diesen großen Talenten bald nur noch solistisch begegnen würde!

Wie überhaupt von den beiden großen Frauenrollen nur Positives zu berichten ist. Deborah Cachet war die aufmüpfige  Königin Alphise mit noblem Sopran, den sie elegant und auch technisch souverän führte. Ihre Vertraute Sémire hat gleich im 1. Akt eine alles abverlangende  Arie zu singen (Un horizon serein). Dramatische Steigerungen, Spitzentöne, wahnwitzige Koloraturen. All das bewältigte Carolin Weynants  mit einer instrumentalen, gleichwohl dramatischen Sopranstimme bravourös. Und dann war die Rolle eigentlich schon wieder vorbei. Man hätte gerne mehr von ihr gehört.

Bei den Herren stand nicht alles zum Besten. Mathias Vidal hat die umfangreichste und wohl forderndste Rolle als Abaris, der „Tamino-mäßig“ um Alphis kämpft. Der französische Tenor  steigerte sich im Laufe des Abends bei seinem Debüt am Theater an der Wien zu einer großen Leistung. Er hat den Kampfeseinsatz, den Leidensgestus in seiner Stimme, die er in selten ausdrucksstarker Bandbreite bis an die Grenzen seiner Kräfte führt.

Die anderen konnten da nicht ganz mithalten. Der noch sehr junge isländische Tenor Benedikt Kristjánsson als einer der beiden erfolglosen Heiratswilligen aus dem Geschlecht der Boreads, Calisis,  erklomm die schwindelnden Höhen seiner Partie mit Anstand. Prinz Borilée war der andere, der bei Königin Alphis nachdrücklich abblitzte. Er war der bass-baritonale Mitbewerber mit eher undefinierbarer Stimme: der Slowake Tomáš Šelc. Der sich sehr spät outende Apollo (gerade noch rechtzeitig zum Happyend!) war Debütant Lukaš Zeman mit kleinem aber hübsch timbriertem Bariton. Der Oberpriester Adamas wurde von Benoit Arnould  mit guter Diktion gebracht (er ist ja auch „Muttersprachler“), der stumpf klingende Bariton schien jedoch an diesem Abend stimmlich überfordert. Schließlich ist noch Nicolas Brooymans zu nennen. Er röhrte den bösen Gott der Nordwinde Furcht erregend.

Fazit: Man konnte an diesem Abend durch die grandiose Orchester- und Chorwiedergabe und zwei tolle Protagonisten durchaus vom Rameau-Virus infiziert werden. Sehr gut besucht das Haus, acht Minuten lang starke Akklamation und Jubel.

(PS: Wer sich ebenfalls mit einem Rameau-Virus anstecken lassen möchte, sei auch auf youtube verwiesen. Die szenische Version aus der Pariser Oper 2003 mit Christie/Carsen/Les Arts Florissants ist zu empfehlen. Christie lässt besonders elegant spielen; konzertant die Aufführung vom Alte-Musik-Festival in Utrecht, 2018,  mit Luks und dem Collegium 1704; wer’s lieber kürzer mag, ist mit der 23-minütigen Orchestersuite mit Jordi Savall und seinem katalanischen  „Le Concert des Nations“ gut bedient …)

Karl Masek

 

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