John Osborn, Jane Archibald. Copyright: Moritz Schell
Wien / Theater an der Wien
Guillaume Tell von Gioacchino Rossini
6. und vorläufig letzte Aufführung in dieser Inszenierung 27. Oktober 2018
DIESER APFEL FÄLLT SEHR WEIT VOM STAMM
An zwei Abenden zwei grundverschiedene Grand Opéras an zwei Häusern in Wien: Rossinis Guillaume Tell am Theater an der Wien, eines der ersten Werke dieser in Frankreich entstandenen Gattung, und tags zuvor Les Troyens von Hector Berlioz an der Wiener Staatsoper: Eine Schöpfung aus der Spätzeit dieses Genres, als die Grand Opéra nicht mehr ganz so à la mode war. Von einem direkten Vergleich wird jedoch – trotz einiger Verlockungen – abgesehen.
Am Theater an der Wien versetzt der Regisseur Torsten Fischer die Handlung von Rossinis Guillaume Tell – wie man den Videoeinspielungen (Jan Frankel) und der Kostümierung sowie den eingesetzten Waffen (Ausstattung Herbert Schäfer & Vasilis Triantafillopoulos) entnehmen kann, in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. In eine Zeit, als in einigen europäischen Ländern bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten und sich repressive totalitäre Regimes etablierten. So weit so legitim. Niemand möchte stattdessen lieber eine retrospektive Heidi-Schweiz mit Kuhglocken und Emmentalerkäse vorgesetzt bekommen. Dann aber sollte das Konzept auch konsequent und schlüssig umgesetzt werden. Daran hapert es aber beträchtlich. So zeigt das fast ständig laufende Video meist ein Kriegsflugzeug im Anflug, während die Soldaten der vom Landvogt Gesler angeführten habsburgischen Besatzungsmacht – wie auch später die aufständische Schweizer Landbevölkerung – Sturmgewehre und Pistolen tragen. Dann aber sollte auch Tell den Apfel seinem Sohn doch gefälligst per Pistolenschuss vom Kopf schießen und nicht mit einer im Kriegshandwerk seit Jahrhunderten ausgestorbenen Armbrust. Da hat wohl der Mut zu diesem Tabubruch gefehlt. Überhaupt wird mit den Waffen zu viel und zu oft herumgefuchtelt: Als der ruhmsüchtige Karrierist Arnold Melcthal zum ersten Mal auf die von ihm seit langem innig verehrte und unbewaffnete Habsburger-Maid Mathilde trifft, verfolgte er sie bei seinen Annäherungsversuchen minutenlang mit dem auf sie gerichteten Gewehr im Anschlag – bis sie es ihm entschlossen aus der Hand nimmt und ihn umarmt.
Als sich die nach Freiheit dürstenden Schweizer zur einer Art Guerilla-Bewegung formieren, ziehen sie sich als Uniform weiße Hemden und schwarze Krawatten an. Schweizer Guerrilleros kann man sich gewiss schwer vorstellen, am ehesten noch vielleicht in der Tracht der Schweizer Garde. Aber so kostümiert? Und dann strecken sie, bevor sie mit Schusswaffen ausgestattet werden, ihre Krawatten entschlossen in die Höhe, als gelte es jeden Gegner, der einem über den Weg läuft, damit zu erwürgen. Obwohl die moderne Zeit in dieser Inszenierung allerorts mit dem Zaunpfahl winkt: Wenn sich die Schweizer zum Widerstandskampf verschwören, dann muss Blut fließen – wie weiland in den Karl-May-Blutsbrüderschaften zwischen Old Shatterhand und Winnetou & Co. Besonders lächerlich und völlig aus der Zeit gefallen ist schließlich der Regieeinfall, dass Tell und Gesler die Entscheidungsschlacht als Ringkampf zwischen den beiden Anführern austragen. Da kommt man aus dem Kopfschütteln kaum mehr heraus. Die Liste könnte noch weiter fortgesetzt werden, sollte aber schon genügen. Nur eines noch: Am Schluss – ein besonderer Einfall des Regisseurs – zieht Walter Fürst, eine Art Urschweizer Doppelagent, die Militärjacke des getöteten Gesler an. Das soll wohl heißen, dass ein neues Regime dem alten folgen könnte, und dass die eben erfochtene Freiheit vielleicht nicht von Dauer sein werde. Nicht ausgeschlossen. Aber auch dann ist eines jedenfalls klar: Mögen auch die Inhalte und Zielsetzungen die gleichen sein – als erstes werden bei einem Regimewechsel garantiert immer die Unformen komplett verändert und ausgetauscht! (Derzeit schauen sie vermutlich aus wie die Nadelstreifanzüge der Banker.)
John Osborn. Copyright: Moritz Schell
Musikalisch hingegen kann von dieser Aufführung viel Positives berichtet werden. Christoph Pohl in der Titelpartie ist der besonnene Mittelpunkt des Geschehens. Klug abwägend agiert er als Anführer der Rebellion und ist zudem ein Familienmensch par excellence. Sein angenehm timbrierter, wohlklingender Bariton passt haargenau zu dem besonnenen wirkenden Naturell, das Guillermo Tell ausmacht. Seine Frau Hedwige wird an diesem Derniere-Abend von der Einspringerin Monika Walerowicz im Orchestergraben gesungen, während die an einer akuten Kehlkopfentzündung laborierende Marie-Claude Chapppuis auf der Bühne agierte Eine Mezzo-Koproduktion, die gut harmoniert. Komplettiert wird die Tell-Familie von der zierlichen Anita Giovanna Rosati, die ihrem Vater beherzt Mut zuspricht, als es um den legendären Tell-Schuss geht. Zur Seite stehen dem Schweizer Nationalhelden weiters noch Jérome Varnier als Pfarrer Melcthal und Edwin Crossley-Mercer als Walter Fürst, der sich taktisch geschickt zwischen beiden Fronten bewegt. Ein gerissener Opportunist wartet eben ab, welche Seite sich letztlich durchsetzt.
Das absolute Gegenteil zu Tells ruhiger Art verkörpert der draufgängerische und ehrgeizig-kämpferische Arnold Melcthal. Er, der sich wegen der vermutlich besseren Karrierechancen zunächst der Besatzungsmacht angedient hat, schließt sich erst nach der Ermordung seines Bruders den Aufständischen an. John Osborns gut geführte Tenorstimme meistert die anspruchsvolle, ja gefürchtete Partie – mit hohen C´s am laufenden Band – mit Bravour. Sängerisch ist er die beherrschende Figur auf der Bühne, ungebremst und ehrlich im Zurschaustellen seiner heftig ausgelebten Emotionen. Seine Liebesbeziehung zur jungen Habsburgerin Mathilde bildet eine gelungene Nebenhandlung zum dominierenden kriegerischen Geschehen in einer ansonsten reinen Männerwelt, bietet zugleich auch Anlass für große innere Konflikte hinsichtlich Loyalität und Treue. Die koloraturstarke Jane Archibald ist ihm dabei als Mathilde eine ebenso starke wie ideale Partnerin und zeichnet einen starken, ethisch fokussierten Menschen.
Als oberster Repräsentant des verhassten Regimes behauptet sich der resolute Bassist Ante Jerkunica. Sein Gesler verkörpert den fiesen Typ des machthungrigen, brutalen Despoten, wie er im Libretto sowie im Geschichtsbüchel steht. Mit ihren Auftritten hervortun sich weiters noch Anton Rositzkiy als betrunkener Fährmann Ruodi und Lukas Jakobski als Hirte Leuthold, dem vom Regime besonders übel mitgespielt worden ist.
Eine wichtige Rolle in einer Grand Opéra spielt der Chor, der oft – in dieser Inszenierung auch tatkräftig – zum Einsatz kommt. Ein Opernhaus, das dafür mit dem Arnold Schoenberg Chor (Leitung Erwin Ortner) einen der besten Chöre der Welt zur Verfügung hat, kann sich besonders glücklich schätzen. Das gilt selbstverständlich auch für das famose Orchester der Wiener Symphoniker unter der Leitung von Diego Matheuz. Von der Nervosität, die man dem jungen Dirigenten bei der Premiere – Presseberichten zufolge – noch attestiert hat, ist inzwischen jedenfalls nichts mehr zu spüren. Er macht seine Sache gut und zur vollsten Zufriedenheit. Entsprechend begeistert der starke Applaus – aber der ist im Theater an der Wien ja schon die Regel.
Manfred A. Schmid
27.10.2018