Theater an der Wien WEINBERG Die Passagierin 19.5.2016
Copyright: Barbara Aumüller
Nun ist die „Passagierin“ – nach ihrer Wiederentdeckung und szenischen Uraufführung in Bregenz am 19. Juli 2010, die auch am 19. September 2011 in englischer Sprache an der English National Opera in London gezeigt wurde, über den Umweg vom Staatstheater Karlsruhe (deutsche Erstaufführung am 18. Mai 2013) und Frankfurt am Main 2015 endlich in Wien angelangt, wenn auch nur für ein zweimaliges Gastspiel der Frankfurter Oper. Obwohl dieses Hauptwerk von Mieczyslaw Weinberg (1919-96), auch fallweise Moishei Vainberg geschrieben, bereits im Jahr 1968 vollendet wurde, fand eine konzertante Uraufführung erst 2006 in Moskau statt. Obwohl sich Dmitri Schostakowitsch für eine Aufführung der Oper seines Freundes, die er für ein Meisterwerk hielt, in der UdSSR stark gemacht hatte und vier Opernhäuser ihr großes Interesse gezeigt hatten, scheiterte eine szenische Realisierung am Veto der damaligen engstirnigen kulturellen Autoritäten der Sowjetunion, da man eine Assoziation von KZ und Gulag befürchtete. Die zweiaktige Oper samt Vor- und Nachspiel basiert auf dem Hörspiel Pasażerka z kabiny 45 (Die Passagierin aus der Kabine 45) der 1923 in Krakau geborenen polnischen Kulturredakteurin und Überlebenden des KF Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück, Zofia Posmysz. Ihr Hörspiel diente sowohl als Drehbuch zum Film „Pasażerka“ von Andrzej Munk (1963) als auch als Vorlage zu Weinbergs Oper. Die Tragik der Uraufführung in Bregenz lag aber darin, dass auch der Librettist der Oper, der russische Musikwissenschaftler Alexander Medwedjew (1927-2010) nur wenige Tage bevor er Gelegenheit hatte, eine Aufführung in Bregenz zu besuchen, verstarb.
Weinberg hinterließ sechs Bühnenwerke und 21 vollendete Sinfonien. Ähnlichkeiten seiner Passagierin mit Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk und Bergs Wozzeck sind hörbar, daneben setzt Weinberg aber auch Elemente der Volksmusik, Jazz und Zwölftonmusik ein. Das Stilmittel eines multinationalen Spracheinsatzes (deutsch, englisch, polnisch, französisch, russisch, hebräisch) begegnet uns u.a. auch im „War Requiem“ von Benjamin Britten, in Leonard Bernsteins „Mass“ und im „Dies Irae“ von Krzysztof Penderecki.
Zur Handlung: Die ehemalige KZ-Aufseherin Anna Lisa Kretschmar (geborene Franz), befindet sich 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihrem Gatten, dem zukünftigen Botschafter der BRD, auf einem Ozeandampfer, der sie nach Brasilien, ihrem zukünftigen Bestimmungsort bringen soll. In einer stummen Passagierin glaubt sie den früheren weiblichen Häftling Marta zuerkennen und wird nun von später Reue und Gewissensqualen geplagt. Die sieben Szenen wechseln nun zwischen Rahmenhandlung an Bord des Dampfers (1959-60), einer Baracke in Ausschwitz (1943-44) und dem in der heutigen Zeit spielenden Epilog. Diese Schlussszene spielt am Heimatfluss Martas alias Posmycs. Begleitet vom Murmeln des Orchesters singt sie den zerbrechlichen Epilog: „Keine Vergebung, niemals“.
Ich kenne nur zwei Opern, die ein Konzentrationslager thematisieren. Neben Nicholas Maws „Sophie’s Choice“, die man 2005 auch an der damals noch innovativen und experimentierfreudigen Wiener Volksoper erleben durfte, auch „Das Frauenorchester von Auschwitz“ des in Österreich noch immer sträflich vernachlässigten deutschen Komponisten Stefan Heucke (1959*).
Copyright: Barbara Aumüller
„Ich lebe, du lebst, sie lebt“ so schreibt die stumme Passagierin zu Beginn der Oper auf eine imaginäre Wand, die mittels Videoprojektion von Bibi Abel an der Wand der Häftlingsbaracke als stummes Credo der Oper in den verschiedenen Sprachen der KZ-Häftlinge erscheint. Regisseur Anselm Weber verlegt die Rahmenhandlung in das Ende der 50er Jahre auf einen Ozeandampfer auf dem Weg nach Brasilien. Glatte weiße Wände mit Treppen zieren dessen Oberdeck, im Inneren aber verbirgt sich eine Frauenbaracke des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau (Bühne: Katja Haß). Bettina Walter hat dazu jene mondäne Kleidung der 50er Jahre mit ihren Petticoats und der bedrückenden Sträflingskleidung der KZ-Insassen entworfen. Anneliese Franz war tatsächlich ab 1943 SS-Aufseherin, sie lebte von 1913 bis 1956 und war an Selektionen beteiligt.
Sara Jakubiak ist die stumme Passagierin und zugleich die KZ-Insassin Marta mit einer gestochen scharfen Sopran Stimme, die in diesem Psychothriller auf Lisa, ihre einstige SS-Aufseherin, trifft. Diese wurde von Tanja Ariane Baumgartner (zuletzt als Clairon im „Capriccio“ im Theater an der Wien zu sehen) mit eindringlichem Mezzosopran dargeboten und überzeugend interpretiert, aufgerieben zwischen den typischen Verdrängungsmotiven von Pflichterfüllung und der seitdem bereits lange verstrichenen Zeit. Doch durch das stumme Auftreten der Passagierin erwachen die Schreckgespenster und Gräuel des Dritten Reiches zu neuem Leben. Peter Marsh, ihr Gatte, sieht seine diplomatische Karriere durch die ihm bisher unbekannte Vergangenheit seiner Gattin belastet. Brian Mulligan war ein berührender Tadeusz mit veritablem Bariton und Geliebter von Marta. Er wird ermordet, weil er statt des vom Lagerkommandanten erwünschten Walzers die Chaconne in d-moll aus der zweiten Violin-Partita von Johann Sebastian Bach spielt. Diese „Konzertszene“ bildet auch den Höhepunkt der Oper, es gibt keine Worte, nur Musik, die schließlich den Ausgang des geistigen Duells zwischen Lisa, Marta und Tadeusz entscheidet und den die KZ-Aufseherin verliert. Als Steward Michael McCown Lisa die Nachricht überbringt, dass die unbekannte Passagierin Engländerin sei, zitiert das Orchester den Beginn des „erlösenden“ Rule Britannia“.
Hervorragend aber auch die Lagerhäftlinge: Anna Ryberg als russische Partisanin Katja, die von der Weite ihrer Heimat „dolina, dolinuschka“ (du Tal, du kleines Tal) träumt, während sich Maria Pantiukhova in der Rolle der Polin Krysztina nach einer richtigen Arbeit sehnt. Und Marta, die sich zu ihrem 20. Geburtstag (nach Sándor Petöfis Gedicht „Reif ist das Getreide“) nur wünscht, dass sie im Sonnenschein sterben könne. Nora Friedrichs als Yvette erteilt der alten Russin Bronka (Joanna Krasuska-Motulewicz), in der Hoffnung bald frei zu sein, noch einen berührenden Französischunterricht „Je vis, tu vis, elle vit – ich lebe, du lebst, sie lebt…“ Jenny Carlstedt als Vlasta, Judita Nagyová als Hannah und Barbara Zechmeister als Alte ergänzten rollengerecht die übrigen KZ-Insassinnen. Die drei SS-Männer Dietrich Volle, Magnús Baldvinsson und Hans-Jürgen Lazar bedrängten Lisa zu der Melodie von „O, du lieber Augustin“. Das Programmheft nennt noch in kleineren Rollen Thomas Faulkner als Passagier, Margit Neubauer als Oberaufseherin und Friederike Schreiber als Kapo.
Unter der Leitung von Dirigent Christoph Geschold lässt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester Weinbergs Partitur mit ihren an Schostakowitsch gemahnenden grotesken Walzer- und Marschrhythmen in vollem, prallem Orchestersound und Passagen voller kammermusikalischer Innigkeit oszillieren. Aus dem Orchestergraben und den beiden Proszeniumslogen erklangen auch so selten gespielte Instrumente wie Marimba, Vibrafon, Peitsche, Xylofon und Celesta und eine ganze Batterie weiterer Schlagwerkzeuge. Hervorragend auch der von Tilman Michael geleitete Chor der Frankfurter Oper sowie die Bewegungschoreographie von Alan Barnes. Das Ganze noch sensibel ausgeleuchtet von Olaf Winter.
Obwohl einige Plätze leer blieben und nach der Pause noch ein paar mehr verwaist waren, spendeten der verbliebene Teil des Premierenpublikums den gebotenen Leistungen aller Mitwirkenden und der vor den Vorhang gebetenen betagten aber äußerst agilen Zeitzeugin Zofia Posmysz begeisterten Applaus. Es bleibt die Hoffnung, dass sich nun vermehrt Bühnen des Oeuvres von Weinberg annehmen werden. Es würde sich auf jeden Fall lohnen.
Harald Lacina