WIEN / Theater an der Wien:
AMERICAN LULU
Gesamtkonzept und Neuinterpretation von Alban Bergs Oper „Lulu“ von Olga Neuwirth (2006-2011)
Gastspiel der Komischen Oper Berlin
Premiere: 7. Dezember 2014
Jene „Lulu“, die Frank Wedekind um die vorige Jahrhundertwende schuf, ist dermaßen zum Prototyp, mehr noch: zum Mythos geworden, dass sie selbstverständlich nicht nur Alban Berg gehört, sondern allen Künstlern zur Verfügung steht. Darum sieht man auch gar nicht ein, warum sich Olga Neuwirth, wenn sie sich zu einer „American Lulu“ entschließt, auf Berg einlassen muss, zumal sie inhaltlich ja etwas ganz Anderes erzählt, auch wenn ein paar Handlungsstrukturen gleich bleiben.
Immerhin, um bei der Musik des pausenlosen eindreiviertelstündigen Abends zu bleiben, überzeugt der Orchesterteil, von dem die Komponistin meint, sie habe „seiner (Bergs) Musik des ersten und zweiten Aktes lediglich eine andere Aura des Klangbildes gegeben“. Dabei lehne sich ihre Orchestrierung der beiden bei Berg musikalisch vollendeten Akte an die Besetzung der „Jazzband-Musik“ aus dem ersten Akt an. Nun, wer Partituren nicht nur lesen, sondern auch analysieren kann, mag sich damit beschäftigen – für den Opernbesucher ergibt sich ein gewissermaßen rasches, meist lautes, lebhaftes Klangbild, dessen „Unterhaltungswert“, um es einmal so zu nennen, nur durch die Führung der Singstimmen „gestört“ wird – das ist Berg und darüber hinaus und drillt sich oft quälend ins Ohr. Da hat es nur „Eleanor“, die einstige Geschwitz, gut getroffen – sie darf mit sinnlicher Neger-Blues-Stimme auch eine direkt aus diesen Quellen inspirierte Musik singen, wie auch der nun schwarze Schigolch, der hier Clarence heißt, mit swingenden „American“ Rhythmen versehen ist.
Apropos Eleanor und Clarence: Die amerikanische Lulu, die sich Olga Neuwirth mit textlicher Hilfe von Helga Utz ausgedacht hat, wobei Englisch gesungen wird, spielt die Geschichte doch – wie der Titel sagt – in den USA, hat zwar noch Elemente der Berg-Vorlage, aber alle Figuren heißen anders, und je näher die Geschichte ans Ende kommt, umso mehr verselbständigt sich die amerikanische, afro-amerikanische (sprich: schwarze) Lulu.
Die Rahmenhandlung, die in den siebziger Jahren in New York spielt, wird pausenlos als Rückblende in die fünfziger Jahre nach New Orleans zurück versetzt, und da kann Olga Neuwirth nicht umhin, uns so richtig zu belehren: Immer wieder werden in die Szenen Texte von Martin Luther King (die man erkennt) und von der afroamerikanischen Lyrikerin June Jordan (die unsereins wohl nicht erkennt) eingeblendet, und die Bürgerrechtsbewegung schreitet pathetisch durch diese Oper, als ob das Problem dieser American Lulu wirklich in ihrer Hautfarbe bestünde. Jede weiße Unterschichts-Frau fände sich genau so behandelt… Und müsste, ziemlich nackt, als Go-Go-Tänzerin agieren und immer bereit sein, den Männern für einen Blowjob die Hose aufzumachen.
Ja, das ist ein elementarer Unterschied zum Original: Während die Lulu bei Wedekind noch eine Täterin ist, bei Berg wohl auch, ist für Olga Neuwirth Lulu zumindest in den Rückblende-Szenen das Opfer der mächtigen Männer (wenn auch, um der Handlungsführung willen, ihr der eine oder andere verfällt). Das ultimative Opfer, nämlich jenes des Frauenmörders, das spart Olga Neuwirth hingegen aus. Wenn sich der Rahmen ihrer Handlung schließt, ist Lulu nicht die gänzlich heruntergekommene Nutte der Dachkammer, sondern ein ziemliches Luxusgeschöpf, das vor den Männern paradiert, während sie hinter ihr herhecheln (die andere Geschwitz, also Eleanor, verwickelt sie in Gespräche über weibliche Würde, was in einer Oper ein bisschen an den Haaren herbeigezogen wirkt). Während die Gesichter der anderen groß ins Publikum projiziert werden und Lulu sich einsam in den Hintergrund zurückzieht, zeigt beim Fallen des Vorhangs nur ein Bild, dass sie in ihrem Blut liegt, also irgendjemandes Opfer geworden ist…
(c) Iko Freese
Das Theater an der Wien hat die zwei Jahre alte Produktion der Komischen Oper Berlin (damals die Uraufführung, Auftragswerk des Hauses) für drei Vorstellungen nach Wien geholt – und schon die Premiere war „locker“ besucht. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov hat in eigener, extrem nüchterner und uninteressanter Ausstattung (man weiß gar nicht, wozu er so viele Umbauten braucht – alles sieht gleich aus) nicht viel für das Werk getan. Am Pult des Orchesters der Komischen Oper Berlin stand Komponisten-Kollege Johannes Kalitzke und ließ Neuwirths Musik mächtig aufrauschen, was er schon deshalb durfte, weil hier auch auf der Opernbühne Kopfmikrophone getragen werden (und wir dachten naiverweise, das sei dem Musical vorbehalten).
Als Lulu hat Marisol Montalvo – die an der Pariser Oper auch die „echte“ Lulu von Berg gesungen hat – mit der Rolle keine Schwierigkeiten, sie stakst lasziv herum, zeigt wenn nötig viel Haut und exekutiert halsbrecherische Töne. Eine große Herren-Besetzung kann sich kaum profilieren, nur die Eleanor der Della Miles ist unübersehbar, nicht nur der riesigen Negerkrause wegen, und klingt sehr schön.
Manche Kritiker haben bei der Uraufführung nach dem „Warum“ des Unternehmens gefragt, und auch in Wien schien – wenn man sich, selbst nicht immer gefesselt, diskret umsah – so mancher müde in seinem Sessel zu hängen und die Blicke ins Leere schleifen zu lassen. Der Regisseur (mit silbernen Turnschuhen) und die Komponistin (mit schwarzem Kleidchen und pastellfarben-bunten Turnschuhen dazu) nahmen den nichtsdestoweniger sehr freundlichen Applaus des Publikums entgegen.
Renate Wagner