WIEN/ Theater an der Wien: „ALCINA“ – jedenfalls musikalisch erstklassig
Zweite Vorstellung 17.9. 2018 – Karl Masek
Vier Saisonen hat Intendant Roland Geyer noch vor sich. Im September 2022 folgt ihm Stefan Herheim nach. Bis dahin hat Roland Geyer noch jede Menge „konzeptionellen Ehrgeiz“, wie die Jahrespressekonferenz im vergangenen April bereits ahnen ließ.
Das Konzept soll auf die bisherigen 100 verschiedenen Opernproduktionen der 12 Jahre von Geyers künstlerischer Leitung aufbauen. Die kommenden 4 Jahre sollen als Art „Tagesablauf“ gegliedert werden („Morgen“, „Mittag“, „Vorabend“, „Nacht“). Inspiriert wurde Geyer durch einen Grafik-Zyklus des renommierten, auch international hoch geschätzten Wiener Malers und Druckgrafikers Herwig Zens:„Im Morgengrauen“. 21 Arbeiten, entstanden zwischen 1997 und 2014, kommen im Jahresprospekt des TAW vor und geben den (auch wieder!) 4 programmatischen Kreisen der Saison das Gepräge: ZAUBERKREIS (Barockes, wie Alcina; Die Zauberinsel; King Arthur; Orlando u.a.); WEBERKREIS (Euryanthe; Der Freischütz; Oberon), SCHILLERKREIS (Guillaume Tell; Don Carlos; Die Jungfrau von Orleans) und DER VIERTE KREIS (Von Oratorien bis Candide).
Foto: Theater an der Wien Saison 2018/19. C: Herwig Zens/Herbert Stadler
(Dazu ein besonderes persönliches Erinnerungsblatt: Professor Herwig Zens, Jg. 1943, war vier Jahre lang am damaligen Musisch-Pädagogischen Gymnasium in der Hegelgasse 12 mein Zeichenlehrer, nein: Kunsterzieher. Damals noch keine dreißig, hat er uns 14 – 18-Jährigen Mut zur eigenen Kreativität gemacht, uns Henri de Toulouse-Lautrec, Francisco Goya und sogar den damaligen „Schockübermaler“ Arnulf Rainer schmackhaft gemacht. Und in meiner Klasse ging man scharenweise zu Vernissagen und Ausstellungen moderner Malerei & Graphik…)
Erste Neuinszenierung dieser Saison also: Alcinavon Georg Friedrich Händel. Die Bestseller-Autorin und Händel-Expertin Donna Leon meint ja in der ihr eigenen pointierten Art, in „Alcina“ gehe es im Grunde nur um Sex wie in vielen anderen Opern auch. Entweder werde eine Liebende verlassen, oder eine ältere Frau verliebt sich in einen jüngeren Mann oder eine verlassene Geliebte begeht aus Liebe Selbstmord. In „Alcina“ finden sich aber Variationen dieser Themen: Die Zauberin hat bisher kaum jemals wirklich geliebt. Sie hat ihre Liebhaber, wenn sie genug von ihnen hatte, sehr rasch entweder beseitigt oder sie verwandelte sie in einen Felsen, einen Baum oder ein wildes Tier. Der kleine „Oberto“ z.B. sucht in der Händel-Oper einen Opernabend lang nach seinem verschollenen Vater, der in einen Löwen „verzaubert“ wurde…
Aber in der Oper überkommt Alcina plötzlich ein neues Gefühl: den heldenhaften Kreuzritter Ruggiero liebt sie w i r k l i c h – und es beginnen die Opernkomplikationen, Liebespein, Verkleidungsverwirrungen, Rettungs- und Fluchtversuche, Kränkungen, Verletzungen, Rache. Eine Fundgrube für jede/n kreative(n) Opernregisseur/in, sollte man meinen…
Tatjana Gürbaca hatte man engagiert – für eine bildmächtige, fantasievolle, aufregende, zauber-hafte, farbenprächtige(?!),… Inszenierung. Doch, ach! Was bekam das Auge zu sehen? Alcinas Zauberinsel: Eine graue, triste Karstlandschaft, eine Steinwüste (Bühnenbild: Katrin Lea Tag). Ein vertrocknetes Bäumchen, das die letzten Blätter verliert, als einmal von „zarten Gefühlen“ gesungen wurde. Keine Andeutung eines Zauber- oder Irrgartens der Lüste, einer Insel, „… wie sie bei Händel gezeigt wird, die viel mit barocker Lebensart zu tun hat, die Lust am Augenblick, die stillstehende Zeit…“: davon redet Tatjana Gürbaca im Gespräch mit der Dramaturgin Bettina Auer, welches im Programmheft abgedruckt ist. Sehr plausibel klingt das alles, schön und sympathisch zu lesen. Und die praktische Umsetzung? Alcina hält ein Spielzeugschiffchen in der Hand, imitiert stürmische See (Da habenBradamante und Melisso gleich Schiffbruch und stranden, auf der Suche nach dem verschollenen Verlobten und Schüler Ruggiero. Ein einziger effektvoller Blickfang: Ein kleines Feuerwerkchen. Dann noch Liebesschaukeln – und das war’s auch schon fast.Der Text wird wieder einmal ignoriert. Der zwischen Liebeszauber und „Verlobtenpflicht“ hin- und her gebeutelte Ruggiero singt doch beim Ohrwurm „Verdi prati“: Ihr grünen Wiesen(!), ihr lieblichen Wälder (!), bald verliert ihr eure Schönheit. Du Blumenpracht, ihr plätschernden Bäche, bald werdet ihr euch verändern. Wenn der Zauber gebrochen ist, wird der Ort unwirtlich sein…“. Die Drehbühne fährt sinnentleert einmal im, dann wieder gegen den Uhrzeigersinn: ohne etwas Neues zu präsentieren. Man bekommt unweigerlich „das müde Aug“ und mit Fortdauer des eigentlich turbulent anmutenden Geschehens gibt es rein szenisch „Längen, gefährliche Längen“.
Einmal beginnt es völlig überraschend in der Steinwüste sogar zu regnen (Wasser auf der Bühne, ein Stilmittel, das in letzter Zeit eine Art leitmotivische Eigendynamik für alle möglichen Stücke bekommen hat). Der Verdacht erhärtet sich: Da kupfern Regisseure voneinander ab – ob dergleichen passt oder nicht. Wir haben solches erst vor wenigen Wochen im Haus am Ring („Samson & Dalila“) gesehen. Auch dort war nicht klar, warum. Ja, und dann reißt sich Alcinas Feldherr Oronte in einem Anfall von Selbstverstümmelung das Herz aus der Brust (!) Von glucksendem Gelächter des Publikums begleitet. Wenn das der einzige Lacher des Abends bleibt, ist im Regiekonzept wohl was nicht so angekommen …
Eingekleidet wurden die 7 Protagonisten ebenfalls von Katrin Lea Tag. Auch da wieder: Klischees zum Überdruss. Das Objekt von Alcinas Begierde muss fast einen Abend lang in ärmellosen schwarzen oder weißen T-Shirts und Boxershorts umherlaufen.
Genug davon. Musikalisch war der Abend nämlich durchaus vom Feinsten. Die Palme des Abends gebührt dem Concentus Musicus Wien und dem musikalischen Leiter Stefan Gottfried. Da wurde nach dem Tod des Gründers und Übervaters Nikolaus Harnoncourt in diversen Feuilletons eifrig Wettervorschau samt Kaffeesud-Leserei betrieben: Es werde bald aus sein mit dem Concentus, zumindest einen Qualitätsschwund werde es geben. Und Stefan Gottfried, na, Harnoncourt ist er keiner, eher so ein braver Cembalist. Was für Unsinn!
Anders geht es weiter, und das ganz im Sinne des Gründers: „Nur ja nicht mich imitieren, Neues kreieren! Und immer Risiko!“ Eine gute Idee Roland Geyers, den „Concentus“ für diese Saison als „Orchester in residence“ zu engagieren!
Stefan Gottfried ist das Kraftzentrum des Abends. Eine andere orchestrale Farbskala wird da „ausgepackt“. Wärmere Klangfarben, weniger schroffe Akzente, aber sorgfältig phrasiert und in keinem Moment einförmig. Beim Schlusschor (gewohnte Spitzenqualität bietet der Arnold Schoenberg-Chor) bedient Gottfried sogar das Tambourin! Und das Publikum hört, spürt und honoriert das! Großer Jubel fürs Kollektiv – und darüber hinaus Ovationen vor allem für die superben Soli von Dorothea Schönwiese (Cello) und Konzertmeister Erich Höbarth (Violine). Das war Weltklasse!
Die Sänger/innen konnten sich so gesehen wie in Abrahams Schoß fühlen! Marlis Petersen in der Titelrolle hatte Unterstützung aus dem Orchestergraben nötig. Am Premierenabend dürfte sie (auch stimmlich) nicht wirklich optimal disponiert gewesen sein – auch durch einen unangenehmen Hexenschuss gehandicapt. Auch in der 1. Reprise schien sie anfangs noch ein bisschen vorsichtig, steigerte sich aber mehr und mehr zu einer starken, berührenden stimmlichen Leistung. Händel lebt und leidet ja mit all seinen Figuren mit – und da ist keine mit schwarz-weiß-Zeichnung geschildert. Da ist auch niemand „nur böse“. Alcina wird ja in ihrem Liebesleid , wenn ihr die Zauberkraft völlig entgleitet, fast zu einer Sympathieträgerin, mit der man Mitleid bekommt. Petersen beglaubigte das im Spiel und in ihren besonders langen Arien (z.B.“Oh! Miocor!“) bewegend.
Der australische Countertenor David Hansen spielte den Helden, den Mutigen, den Flatterhaften (und nicht nur Sympathieträger) Ruggiero mit Anstand. Arienmäßig hat er in dieser Oper besonders „gute Karten“ von sanfter Kantilene bis zu dramatischen Ausbrüchen undknatternden Koloraturen – und er war nach kurzer, etwas kehliger Einsing-Phase ein sehr guter Counter-Kartenspieler.
Mirella Hagen als Alcinas Schwester Morgana, die sich in die verkleidete, als der „eigene Bruder Ricciardo“ auftretende Bradamante verliebt (was die Eifersucht des Hauptmanns Oronte bis zum Selbstverstümmelungsversuch anstachelt) bot in der Liebeswirrnis mit einer Schmerzensarie (da schien wirklich die Zeit stillzustehen!) einen Höhepunkt des Abends. Ihr Sopran: unschuldig-mädchenhaft klingend (sie singt sonst auch häufig Pamina, und da sagt der Papageno ja „Fräuleinbild“!).
Katarina Bradić war eine Bradamante mit sozusagen bildschönem, schlankem Mezzosopran, gut durchgebildet von pastosenAlttönen bis zu mühelosen Mezzohöhen, jeder Zoll glaubwürdig in der Verkleidung des jungen Mannes. Eine Barocksängerin par excellence, die aber auch eine besonders erfolgreiche Carmen sein soll. Und die Stimme ist sicher für groß dimensionierte Häuser gut geeignet. Staatsoper, aufmerken!
Der Routinier Rainer Trost spielte als Oronte auch die schrägen Regie-Einfälle nachdrücklich, hat in seinen Arien einen farbenreichen lyrisch-sanften, immer noch sehr jung klingenden Tenor und beweist in den Rezitativen akzentuierte Kraft.
Der junge österreichische Bass(Bariton) Florian Köfler war der getreue Mitreisende Melisso, moralisch eine standfeste Konstante in allen Lagen. Sein Organ: Schön timbriert und ausbaufähig. Der Florianer Sängerknabe Christian Ziemski gestaltete den keinen Oberto auf der Suche nach seinem Vater sehr stimmschön, sang auch die Koloraturen sicher und „in aller Seelenruhe“.
Für den„2. Abend in dieser Inszenierung“ gab es starken Beifall und Bravochöre. Schade, dass der szenische Teil des Abends mit dem musikalischen Niveau so gar nicht mithalten konnte.
Karl Masek