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WIEN / Theater an der Wien: A HARLOT´S PROGRESS

13.10.2013 | Oper

FOTOPROBE: A HARLOT'S PROGRESS A Harlot's Progress Damrau WernerKmetitsch~2

WIEN / Theater an der Wien:
A HARLOT´S PROGRESS von Iain Bell
Uraufführung
Premiere: 13. Oktober 2013

Zurück zu William Hogarth – warum eigentlich? Das 18. Jahrhundert ist nicht unseres, und gar so paradigmatisch ist seine Hurengeschichte um Moll Hackabout auch wieder nicht. Da hätte man im 21. Jahrhundert das Schicksal eines verirrten, verführten Ostblock-Mädchens hernehmen können und mehr erreicht – so wie etwa Mark-Anthony Turnage, als er 2011 mit „Anna Nicole“ die „wahre“ Geschichte der Anna Nicole Smith überhöht und doch punktgenau für unsere Zeit auf die Bühne brachte.

Allerdings: Komponist Iain Bell und Librettist Peter Ackroyd sind Briten, die haben eine andere Einstellung zur Tradition – und auch zu den Zwängen und Forderungen der Gegenwart. Welcher deutsche Komponist würde es wagen, eine zeitgenössische Oper durchwegs tonal (wenn auch nicht „melodiös“) zu halten? Iain Bell tut es, und dass „A Harlot´s Progress“ solcherart den Ohren nicht weh tut, hat sicherlich zu dem sehr freundlichen Erfolg der Uraufführung im Theater an der Wien beigetragen. Manches Spekulierte war an dem Unternehmen zu entdecken, aber aufgegangen ist es allemale, wenn man den Applaus als Gradmesser nimmt.

„A Harlot´s Progress“, sechs Szenen mit musikalischen Zwischenspielen, inhaltlich auf Hogarths Kupferstich von 1732 basierend, wurde nicht ganz zum Selbstzweck geschrieben. Möglicherweise hätte Iain Bell, der erst 32jährige, nicht so leicht einen Kompositionsauftrag für seine erste Oper bekommen, hätte sich nicht Diana Damrau mit ihrem ganzen Gewicht als einer der wenigen deutschen Weltstars der Oper für das Unternehmen stark gemacht. Und für eine Rolle, die sie vielleicht nicht schön und elegant zeigt, ihr aber auf jeden Fall Ehre machen muss. Denn sie kann hier in knapp zweieinhalb Stunden ein Frauenschicksal von naiver Jugend bis zum Tod im Wahnsinn zeichnen, dazwischen zur berechnenden Hure, zur verzweifelten Liebenden, zur hoffnungslosen Syphilitikerin werden, sie kann sich auf der Bühne vergewaltigen und demütigen lassen, aufbegehren und verzweifeln, sogar ein Kind bekommen und am Ende in einem Sarg landen, der über ihr zugeklappt wird – wenn es je eine darstellerische Tour de Force gab, dann diese. Berüchtigten Rollen des modernen Repertoires steht diese mit ihren Anforderungen nicht nach.

Und die Damrau spielt alle rasch wechselnden Variationen der Moll Hackabout (dem unschuldigen Mädchen werden die Kleider vom Leib gerissen, sie wird aufs Bett geworfen und vergewaltigt, und faktisch in der nächsten Minute ist sie bereits die erfahrene, zynische Hure – und in diesem Tempo geht es weiter) zwar nicht mit der genuinen Brillanz der geborenen Schauspielerin, aber sie weiß immer, was sie tut, sie hat mit einem gescheiten Regisseur jedes Details erarbeitet. Und sie bekommt wahrlich zu singen, was ihre geläufige Gurgel hergibt, von lyrischen Passagen bis zu dramatischen Ausbrüchen, Trillern und Koloraturen, Wärme und Fahlheit des Ausdrucks, am Ende ein Sterben in Wahnsinn, 20 Minuten lang. Ein ihr in die Kehle komponiertes Virtuosenstück.

A Harlot's Progress_030(c)WernerKmetitsch~2
Fotos: Theater an der Wien / WernerKmetitsch

Wobei der Komponist, dessen Begabung und Können man regelrecht hören kann, nicht immer die nötige Inspiration erreicht – die Sterbeszene beispielsweise wirkt endlos und ist kaum variantenreich, und wenn man sich wünscht, die arme Haut möge endlich verenden, anstatt dass man Diana Damrau mit unendlicher Faszination zuhörte, stimmt etwas nicht. Iain Bell ist im Dramatischen überzeugender als im Lyrischen, besonders gut gelingen ihm die Orchesterzwischenspiele, die nicht nach Filmmusik klingen und dennoch viel ausdrücken, und man erlebt einen gewiss einigermaßen anregenden Opernabend, der von der großen europäischen Musiktradition borgt (gleich der Beginn lässt die Neidhöhle erahnen) – aber der Eindruck, dass man hier ein wirklich großes Werk kennen gelernt hat, stellt sich nie ein.

Das liegt gewiss auch am Libretto von Peter Ackroyd, der als Romancier (zumal in jenen Büchern, wo er sich historische Themen hernimmt) sehr anregend zu lesen ist. Die Sprache, die er für die „Harlot“ fand, orientiert sich in ihrem Charakter vermutlich am 18. Jahrhundert. Das Ergebnis ist vielfach schwammig poetisch statt sachlich, und die Szenenführung landet immer wieder so unweigerlich im Pathos, dass man es für absichtsvoll halten muss: Das ist oft dermaßen tremolierend überzogen, dass man nicht wirklich mitgehen will.

Ist in die Geschichte schon von der Vorlage und dann vom Libretto her alles hineingepackt, was es an Grausamkeiten und Grauslichkeiten gibt, so hat Regisseur Jens-Daniel Herzog alles noch einmal, zweimal, dreimal überdreht. Er mag einwenden, dass es keinen Sinn hat, eine brutale Sozialstory zu erzählen und sie dann zu beschönigen. Aber wenn man sie spekulativ ausreizt, dann wird sozialer Kitsch daraus, und der ist nicht viel wert.

Bedenkt man, dass das Bühnenbild aus wenig mehr als umrahmenden Bretterwänden und innerhalb derer Betten und Lumpen besteht, so erreicht Mathis Neidhardt da sehr viel. Die Kostüme von Sibylle Gädeke versuchen den Spagat über Jahrhunderte, Andeutungen von einst, Andeutungen von heute, nichts wirklich, aber wenn unter den Requisiten Cola-Dosen zu finden sind, dann weiß man: Ja, auch heute ist gemeint! Hingegen ist es nachdrücklichster Symbolismus, wenn es – Schmutz regnet. Er kommt schon vom Himmel, wenn Moll am Ende der ersten Szene ins Bett geworfen wird, er rieselt beharrlich in Form von schwarzen Flocken, er macht alles dreckig, am Ende bedeckt er gänzlich den Boden. Das sieht nicht schlecht aus und ist auch eine Idee.

Andere Ideen des Regisseurs bestanden darin, jede Brutalität, aber auch jede kleinste Möglichkeit sexueller Betätigung ausspielen zu lassen. Gewiss, wenn Moll ihren ungeliebten alten Galan „reitet“, ganz offensichtlich in der Absicht, ihn zum Tode zu bringen, dann hoppelt die Musik da feste im Kopulationsrhythmus mit. Aber Jens-Daniel Herzog war entschlossen, sich absolut keine Gelegenheit für Gewalttätigkeit, Coitus und Fellatio zu entgehen lassen – im letzten Bild müssen noch irgendwelche Kerle Anstalten machen, den Sarg von Moll zu vögeln, und ihrem alter Liebhaber, der hier eine Rede hält, macht ein junges Mädchen dabei zu eindeutiger Betätigung die Hose auf. Nein, es gab natürlich keine Buh-Rufe für diese Inszenierung, wieso auch? So ist das Leben, so ist das Theater.

Neben der Damrau hatte noch eine Sängerin an diesem Abend Opernglück: Tara Erraught, deren Wiener Debut an der Staatsoper mit einer „Cenerentola“ schief ging, die weder ihr noch dem Haus Ehre machte, hat mit der Kitty eine schöne, reich facettierte Rolle gefunden. Sie ist Molls Begleiterin von Anfang an – zuerst zynisch, dann beteiligt, am Ende tief erschüttert und der einzige Mensch, der Moll geblieben ist. Das macht sie (diesmal auch nicht von den Kostümen entstellt wie einst anno Glittenberg) darstellerisch wunderbar, singt es auch bemerkenswert, obwohl die Tessitura der Rolle für einen Mezzo sehr hoch erscheint.

Nathan Gunn ist Molls Liebhaber, der in ihren Träumen wie ein eleganter Mephisto erscheint, in der Realität aber eine Schäbigkeit offenbart, die ihn als Kriminellen und Zuhälter ausweist: Die Rolle ist gut, aber nicht übermäßig ergiebig, und Gunn holt mit seiner Erscheinung und seinem Bariton eine Menge heraus. Der fiese Liebhaber Lovelace ist eindimensionaler, und vielleicht wirkt der Tenor des sich alt und widerlich gebenden Christopher Gillett darum so stark. Marie McLaughlin, einst ein großer Star, vor Jahren Glyndebournes Violetta, hat mittlerweile eine etwas reduzierte Stimme, ist aber immer noch eine schöne Erscheinung und gibt der Puffmutter etwas wie Grandezza. Nicolas Testé würde in einigen Nebenrollen kaum auffallen, ließe sein schöner Bass nicht doch immer wieder aufhorchen.

Librettist und Komponist haben dem Chor eine besonders große Aufgabe zugeteilt – halb „Volk“, und da die Armen von der miesesten Sorte (wie sie die schwangere, am Ende befindliche Moll verhöhnen und demütigen, ist regelrecht schmerzlich), halb aber auch „Chor“ im höheren Sinn des Wortes, jene kommentierende Umwelt, vor der sich stets die einzelnen Schicksale abspielen. Den Mitgliedern des Arnold Schoenberg Chors (Leitung: Erwin Ortner) wird viel abverlangt, und sie bringen es. Desgleichen die in großer Besetzung angetretenen Wiener Symphoniker unter der Leitung des finnischen Dirigenten Mikko Franck. Wie neue Werke, die man nicht kennt, im musikalischen Detail interpretiert werden, kann man ja nicht sagen (bei Wagner und Verdi tut man sich leichter), aber es klang gut. Und das hat vermutlich auch über den Erfolg eines Abends entschieden, der nichts anderes beschwor als alle Hässlichkeit, Scheußlichkeit und Grausamkeit der Welt.

Renate Wagner

 

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