WIEN / Theater am Spittelberg: CARLOS OSUNA singt Canciónes aus seinem „Mexican Songbook“
12. Juni 2024
Von Manfred A. Schmid
Bob Dylan arbeitet seit Jahrzehnten an seinem American Songbook, das er selbst mit wesentlichen Beiträgen erweitert hat, und die österreichische Musical-Legende Marika Lichter hat eben in Wien ihr „My Yiddish Songbook“ unter dem Titel „Alle Brider“ präsentiert. Der mexikanische Tenor Carlos Osuna, seit Jahren Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, singt im Rahmen der „Noches Latinoamericanas“ (Lateinamerikanische Nächte) im Theater am Spittelberg aus seinem für Juli angekündigtem „Mexican Songbook“ und gibt einen ersten Einblick in die dafür getroffene Auswahl an Canciónes aus seiner Heimat, der er sich musikalisch weiterhin sehr verbunden fühlt. Das ist auch der Grund, wieso seine persönliches Songbook Nostalgias heißt und warum er zwischendurch dem Publikum auch erklärt, wann er ein Lied zum ersten Mal gehört hat, was es vor ihn bedeutet und warum er es singen wird. Begleitet wird er von einem lateinamerikanischen Ensemble mit Musikern aus Venezuela, Kolumbien und Kuba, das in wechselnder Besetzung auftritt: Zuweilen wird Osuna, aus der Hafenstadt Mazatlan gebürtig, nur vom Klavier aus begleitet, meistens aber kommen Kontrabass, gespielt und gezupft vom zugleich auch als musikalischer Leiter, Arrangeur und Producer tätigen Carlos Pino-Quintana, sowie Schlagwerk hinzu, in einigen Fällen ergänzt durch Violine und Cello. Der Pianist aus Kolumbien tritt dreimal auch solistisch mit gehobener Salonmusik aus seiner Heimat in Aktion, was typisch für die mexikanische Gastfreundschaft ist, die dazu geführt hat, dass dieses Land auch zu einer Art Schmelztiegel lateinamerikanischer Kulturen geworden ist. Wann immer in lateinamerikanischen Staaten, wie etwa in Chile oder Argentinien, diktatorische Zustände herrschten – was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts leider mehrmals der Fall war -, nahm das Land verfolgte Künstler und Intellektuelle bereitwillig auf, was zu einer Bereicherung führte, ohne dabei aber die eigenen Traditionen zu vernachlässigen. So gesehen ist es kein Wunder, dass an diesem Abend auch der kubanische Bolero zu hören war, der inzwischen in Mexiko, wie Pino-Quintana erklärte, längst heimisch geworden ist und so der mexikanischen Musik, die aus europäischen, meist spanischen, aber auch mitteleuropäischen (siehe die Mariachi-Musik) und indigenen Wurzeln entstanden ist, auch afro-lateinamerikanische Klänge und Rhythmen beimischt.
Carlos Osuna bringt mit großer Leidenschaft die Vielfalt der mexikanischen Canciónes zum Klingen, in denen es vor allem um Liebe geht und dem Schmerz, wenn man verlassen wird. Mit Schmelz besingt der farbenreich nuancierte, ausdrucksstarke Tenor die angehimmelte Frau in „Mujer“, und beteuert in „Júrame“ die Liebe, fordert im zum Welthit gewordenen „Besame mucho“ Küsse, als ob es zum letzten Mal wäre. Das Lied „Te quiero, dijiste“ singt er, wie es von dessen Schöpferin María Grever intendiert war, nicht an eine Frau gerichtet, sondern als Liebeserklärung an eine todkranke Tochter, voll Emotion und innerer Beteiligung. In „Tengo nostalgia de ti“ erzählt Carlos Osuna von der traurigen Einsamkeit und der daraus resultierenden Sehnsucht nach einer verlorenen Geliebten, ohne der man mit dem Leben nichts anzufangen weiß, während er im hymnischen Evergreen „Granada“ von Agustín Lara die spanische Stadt und ihre „Frauen aus Blut und Sonne“ hochleben lässt und von den Zuhörerinnen und Zuhörern, aus der mexikanische Community in Wien, mit jubelndem Applaus gefeiert wird. Als Zugabe hat sich Osuna „Mazatlán“, eine Liebeserklärung an seine Heimatstadt, ausgesucht. Die Neugier auf seine CD Nostalgias: A Mexican Songbook ist erweckt.